Hoeneß und Müller hatten sie fünf Weltmeister im Team. Drei davon – Schwarzenbeck, Hoeneß und Müller – schossen insgesamt vier Tore, und Maier hielt jeden Ball.
Ein klarer Fall: Es wurde höchste Zeit für eine Verstärkung der Fohlenelf durch eine emsländische Nachwuchskraft.
»Ich fühl mich noch leicht weggetreten von der Feierei«, sagte Renate, als wir sie vom Bahnhof abholten. Jedenfalls sei sie jetzt Studentin, Matrikelnummer 002676. In dem Mordsbetonklotz von Universität habe man ihr auf die Frage nach der Zimmervermittlung erwidert: »Fahren Sie mal in den Gebäudeteil B auf der Ebene 2 und rollen Sie dann die Flure entlang.« Da habe sie ’ne halbe Stunde warten müssen, und dann sei alles rasend schnell gegangen. Das billigste Angebot sei ein möbliertes Zimmer in der Stapenhorststraße 75 gewesen, bei einer Familie Schmidt, für 130 Mark. Sie sei sofort hingefahren, und das Zimmer sei ganz niedlich, im vierten Stock, direkt unterm Dach, leider ohne Wasseranschluß. Ein kleines Waschbecken und ein WC befänden sich auf dem Flur. Die Möbel seien ziemlich brasselig und oll, aber der Kühlschrank sei verwendbar, und Tante Gertrud habe ihr einen alten Schreibtisch versprochen. Und zur PH wären’s bloß fünf Minuten zu Fuß. Gleich nach Ostern könne sie da einziehen.
Fürs Wochenende hatte Renate nicht genügend Büchsenmilch eingekauft, und Papa schimpfte deswegen mit ihr, und dann rief Mama an und gab durch, daß sie nach Südafrika weitergereist sei, um da noch eine alte jeversche Schulfreundin zu besuchen.
»Ich hab in ’ne Zigeunersippe reingeheiratet«, sagte Papa.
Mein Rad hatte ich schon beim Ausbruch des Streits über die Büchsenmilch nach unten gebracht.
In Deutsch wurden Frühlingsgedichte durchgenommen.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden belebenden Blick …
Wir sollten uns vergegenwärtigen, sagte der Wolfert, daß die Menschen damals ja noch ohne den Komfort der Industriegesellschaft hätten überwintern müssen. Das Gros der Bevölkerung sei bitterarm gewesen. »Die meisten Leute haben in ihren Hütten und Häuschen gezittert und gefroren und – salopp gesagt – vor sich hin gestunken, und wenn dann der Frühling dieser Drangsal ein Ende bereitete, war das jedesmal wie ein Befreiungsschlag. Das sind Faktoren, die bei der Interpretation von Naturlyrik durchaus auch eine Rolle spielen. Zählen wir doch mal auf, was den Zeitgenossen Goethes noch so alles gefehlt hat. Schlosser!«
Upps. Tja, was hatte den Zeitgenossen Goethes denn noch so alles gefehlt im Winter?
»Warmwasserleitungen?«
»Richtig. Weiter! Was noch?«
Der Dralle zeigte auf und sagte: »Fernsehen.«
Alle lachten, aber der Wolfert meinte, das sei gar nicht so falsch. Ohne die heutigen Massenkommunikationsmittel habe sich so mancher Winterabend in der Goethezeit fast unerträglich lange hingezogen für die einfache Bevölkerung.
Renate kochte schon wieder Essen vor, weil sie Olaf zu dessen Geburtstag besuchen wollte, und Papa stampfte nach einem neuen Streit mit ihr wutgeladen die Kellertreppe runter und reagierte sich in der Werkstatt ab, indem er da seine Maschinen aufheulen ließ.
»Ich hab nun mal Sehnsucht nach Olaf«, sagte Renate und knallte ein Brett auf den Küchentisch und hackte Zwiebeln klein. »Wenn Papa dafür kein Verständnis hat, kann ich ihm auch nicht helfen!« Sie habe sich hier nun doch wahrlich als fleißiges Lieschen betätigt, seit Wochen, und da könne Papa ihr es doch ruhig gönnen, daß sie Olaf mal besuche. »Das ist immerhin der zukünftige Vater von Papas Enkelkindern!« Und sie tue ja alles Notwendige, damit wir hier die Mahlzeiten nur aufzuwärmen brauchten. »Aber Papa wirft mir vor, daß ich egozentrisch bin und mich einen Dreck für die Familie interessiere! Bloß weil ich mal wieder für zwei Tage rauswill aus diesem Irrenhaus!«
»Im Kittchen ist kein Zimmer frei« hieß ein Film, in dem Jean Gabin einen Tippelbruder spielte, der es darauf anlegte, die Wintermonate behaglich im Gefängnis zu verbringen, aber damit kam er, wie der Titel schon sagte, nicht durch, obwohl er auf Deubelkommraus die Gesetze brach: Er haute ein ganzes Café in Klump, hielt den Verkehr auf, störte die öffentliche Ruhe und beleidigte einen Polizeibeamten – alles ohne den gewünschten Erfolg. Jeder Schuß ging nach hinten los.
Sonderbar. Junge, wenn ich noch daran dachte, wie mich die Bullen damals zur Brust genommen hatten, 1972, wegen zwei lumpigen Matchboxautos, als ich bei Woolworth in Koblenz beim Ladendiebstahl erwischt worden war! Und Mama hatte mir sechs Wochen Hausarrest aufgebrummt!
An einem Donnerstag war das gewesen, und es hatte lange gedauert, bis mir Donnerstage wieder wie normale Wochentage vorkamen. Und dann noch dieser schaurige Moment, irgendwann Anfang ’73, als wir uns alle bequem vor der Glotze gefläzt hatten, und in den Nachrichten war plötzlich die Zahl der im letzten Jahr in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Ladendiebstähle genannt worden. Mindestens ’ne halbe Stunde lang hatte ich danach noch wie versteinert auf den Teppichfliesen gelegen.
Nach dem Frühstück, bei dem nicht mehr als das Allernötigste gesprochen worden war, ging Papa aus dem Haus, ohne ein Wort des Abschieds, und Renate mußte vor ihrer Abreise noch den Tisch abräumen und die Küche machen und danach zu Fuß zum Bahnhof laufen, die Herzogstraße hoch, an den froststarren Bäumen vorbei.
Gegen Hertha holte Gladbach zuhause nur ein 1:1 heraus. Das war ein leichtsinnig verschenkter Punkt! An Latteks Stelle hätte ich den Spielern gehörig den Marsch geblasen und ihnen geraten, Klaus Fischer nachzueifern: Der hatte bei Schalkes 6:2 gegen den KSC in der ersten Halbzeit innerhalb von 19 Minuten einen lupenreinen Hattrick hingelegt und in der zweiten Halbzeit ein weiteres Tor geschossen.
Es hatte Samstagabende gegeben, an denen Papa schon frühzeitig aus dem Keller hochgekommen war, um sich zusammen mit uns Am laufenden Band anzukucken, diese lustige Sendung mit Rudi Carrell, aber diesmal blieb Papa unten.
Am Sonntagmittag kam Renate zurück, und es ging gleich wieder los: Milch ist alle, Butter alle, Sahne alle, Weberknechte in der Vorratskammer, Flurteppiche nicht gesaugt, und der Regenschirmständer von Rostschäden angefressen! Eine anständige Hausfrau müsse sich auch um solche Dinge kümmern, statt in der Weltgeschichte herumzureisen und sich mit Hühn und Pedühn zu treffen …
Abends fand im Gemeindesaal ein gemeinsames Essen der Konfirmanden und ihrer Familien statt. Weil Mama noch nicht zurück war, mußte ich da zum Glück nicht hin. Dachte ich! Aber Papa verdonnerte Renate dazu, mich zu begleiten. Man sollte was zu futtern mitbringen, und Renate bereitete grummelnd einen Tomatensalat zu.
»Ziel dieses Mahles«, sagte Pastor Böker, »ist es, etwas von der Tischgemeinschaft deutlich und lebendig werden zu lassen, wie sie in der Urgemeinde möglich war …« Auch im Urchristentum hätten sich die Gemeindemitglieder zum gemeinsamen Essen versammelt.
Renate und ich hauten wieder ab, so schnell wie’s ging.
Es war am Schiffen, seit Tagen. Alles grau und modderig und lehmig, rein zum Trübsinnigwerden.
Renate, die vom Zahnarzt morgens eine dicke Betäubungsspritze ins Zahnfleisch gejagt gekriegt hatte, konnte auch mittags noch nicht wieder richtig sprechen. »Jihähi juorr«, sagte sie zu mir, an der Haustür, was soviel heißen sollte wie: »Zieh dir die Schuhe aus.«
Am ersten Osterferientag rief Mama an, um kurz nach vier: Sie sei gut gelandet und jetzt in Düsseldorf mit Oma bei Tante Doro. »Meine Ankunft in Meppen ist drei nach acht!«
Renate, die Mama das Haus spiegelblank übergeben wollte, astete einen Eimer mit Wischwasser durchs Treppenhaus und schnauzte mich und Wiebke an: »Das ist wirklich unvorstellbar, was ihr hier für einen Dreck und eine Unordnung verbreitet!« Wir sollten oben die Zimmer aufräumen, aber dalli, sonst könnten wir was erleben! An Wiebke erging der Appell, den verpißten Hamsterkäfigboden auszuwaschen und die Spreu zu erneuern.
Volker, der sein Zimmer schon auf Vordermann gebracht hatte, war im Wohnzimmer am Staubsaugen und Jodeln.