Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      In Jever kam ich mit insgesamt vier Stunden Verspätung an. Am Bahnhof holte Opa mich ab, mit dem Fahrrad. Meinen Koffer klemmte er auf dem Gepäckträger fest.

      »Irrungen, Wirrungen«, sagte Opa, und er wollte alles über den Unfall wissen. Darüber werde morgen oder spätestens übermorgen sicherlich was in der Zeitung stehen.

      Das wäre mir nur recht, dachte ich, denn dann hätten Oma und Opa es schwarz auf weiß, daß ich mich nicht aus Idiotie verspätet hatte.

      In der Veranda standen noch viele von Opas Geburtstagsgeschenken auf dem Schreibtisch. Topfblumen und Alkoholika. Beim Gurkenschnibbeln und Toasten berichtete Oma vom Vettern- und Kusinentreffen in Rastede, wo zwar leider etwas viel Klarer gekreist sei, aber sie und Opa hätten zusammen vorgesungen und seien fast wie Stars gefeiert worden. »Da siehst du mal, was du für flotte Großeltern hast! So bejahrt und noch so rege!«

      Papa rief an, nur um sicher zu sein, daß ich jetzt unversehrt am Ziel meiner Reise angelangt sei.

      Oma hatte mir eines der Gästebetten im Keller frisch bezogen, und ich wäre auch gleich eingeschlafen, aber daran hinderte mich eine Mücke. Sobald deren Simmen etwas lauter erklang und dann verstummte, konnte man sicher sein, daß sie sich irgendwo auf einen draufgesetzt hatte, um Blut zu saugen. Ich machte das Licht an, um das Biest zu erledigen, und dann sah ich, daß an den Wänden mindestens dreißig Mücken saßen und nur darauf warteten, daß ich mich schlafen legte. Statt die Viecher alle totzuschlagen, wofür ich ein halbes Jahr gebraucht hätte, wickelte ich mich in die Bettdecke ein, so daß nur meine Nasenspitze noch rauskuckte, aber am nächsten Morgen hatte ich trotzdem Mückenstiche an den Armen, an den Unterschenkeln und am Hintern, sogar mitten in der Ritze.

      Nach dem Frühstück ging ich in den Schloßgarten, wo ich eine Pfauenfeder aufgabelte, tief im Gesträuch, und zum Elf-Uhr-Tee kam ich zurück in die Mühlenstraße. Den Tee servierte Oma in der Veranda, mit ein paar Keksen, die viel delikater waren als die in Meppen. Dazu rief Oma auch Gustav herbei, der in seinem Zimmer Gesetzestexte am Pauken war, fürs Jura-Studium.

      Im Keller bewahrte Gustavs seine Zeitschriftensammlungen auf, jahrgangsweise gebündelt, mit Paketschnur. Bravo und Spiegel. Die Hefte vom Jahrgang ’76 lagen noch lose rum. Eins mit einer Titelgeschichte über Bordelle: »Sex im Salon«. Bei den Fotos dazu ging’s zur Sache: Auf einem sah man, wie zwei Nutten einem nackten Mann den Rücken und den Pöter massierten, und auf ’nem anderen, wie eine Nutte einem Typen, der in der Unterhose dalag, zwischen die Beine faßte. Und es war nicht zu übersehen, daß dieser erwartungsvoll grienende Typ einen Ständer hatte.

      Dreist – in ein Bordell zu gehen und sich da auch noch fotografieren zu lassen, mit einer Frauenhand auf dem Familiensilber!

      Den Spiegel hatte Gustav schon mit zwölf gelesen und gesammelt, und vielleicht sollte auch ich mal damit anfangen, mich mit Politik zu beschäftigen und vorm Fernseher Bundestagsdebatten zu verfolgen, so wie Gustav, der dabei Pfeife zu rauchen pflegte: Exclusiv Cavendish Aromatic, »Prädikat zungenmild«. Neben sich auf dem Tisch hatte er dabei stets das »Handbuch des Deutschen Bundestages« liegen, eine mehrbändige Loseblattsammlung, in der alles drinstand, was man über die Bundestagsmitglieder wissen mußte, sogar deren Kinderzahl und welchen Hobbys sie frönten. Gustav wußte das fast alles auswendig, weil er immer, wenn ein neuer Redner ans Pult trat, sofort dessen Personalien nachschlug.

      Der Politiker, den Gustav am wenigsten leiden konnte, war Horst Ehmke von der SPD. »Ähh!« rief Gustav, wenn er den erblickte. »Dieser widerliche Ehmke!« Bei dessen Anblick komme ihm die Galle hoch. Ehmke war aber auch wirklich kein Adonis. »Swienplietsch«, sagte Gustav, das sei das richtige Wort.

      Aus Opas Bücherschrank holte ich mir einen schiefgelesenen Wälzer raus, über Adolf Hitler, und setzte mich damit in den einen Wohnzimmersessel. Alan Bullock: »Hitler. Eine Studie über Tyrannei«.

       Adolf Hitler wurde am 20. April 1889, abends halb sieben, im ›Gasthof zum Pommer‹ in der kleinen Stadt Braunau geboren …

      Und dann noch fast achthundert Seiten im pechschwarzen Umschlag. Ich blätterte zum Fototeil vor: Hitlers Eltern sahen absolut panne aus. Die Mutter wie ein verängstigtes Hühnchen und der Vater mit einem Oberlippenbärtchen wie aus der Staubsaugertüte. Oder dann so ein schielender Nazi auf einem Foto aus dem Bürgerbräukeller. Und Hitlers Freudentänzchen, 1940, bei der Nachricht von der Kapitulation der Franzosen.

      In dem Buch wurde genauestens beschrieben, wie Hitler immer alle hinters Licht geführt und angelogen hatte. Großmäulig seine Friedensliebe kundgetan und im Hinterzimmer mit den Generälen heimlich schon die Aufmarschpläne für den Polenfeldzug ausgeheckt. Auch die eigenen Parteigenossen hatte Hitler abknallen lassen, wenn sie ihm im Weg gewesen waren. Und dann die Konzentrationslager, mit Gaskammern für die Juden …

      Als Kleinkind war ich mit meinem Kett-Car ja mal einer Nachbarin in die Hacken gefahren. Die hatte ins Krankenhaus gemußt, und dann hatte es noch einen häßlichen Streit mit Papas Haftpflichtversicherung gegeben, weil die nicht dazu bereit gewesen war, das fällige Schmerzensgeld herauszurücken. Immer, wenn ich daran dachte, sah ich diese Frau mit ihrer blutigen Ferse vor mir. Als Vierjähriger ist man ja vielleicht noch nicht für alles verantwortlich, was man anstellt, aber Hitler hatte seine Verbrechen als Erwachsener begangen, in voller Absicht: Wie hatte der das bloß aushalten können? Zu wissen, daß er mit seiner Politik Millionen Menschen unter die Erde brachte? Und dann die Kriegskrüppel, die ja auch nach Millionen zählten: Arm ab, Bein ab, taubstumm, blind …

      An Hitlers Stelle wäre ich verrückt geworden. Der größte Feldherr aller Zeiten, kurz GröFaZ.

      »Der hätte gar nicht verrückt werden können, denn der war schon verrückt«, sagte Gustav am Abendbrotstisch, und Oma erzählte von einer Jüdin, die sich in ihrer Wohnstube aufgehängt habe, hier in Jever, in der Nazizeit. Eine Hebamme. »Und die hat deine Mutter auf die Welt geholt, mien Jung! 1929! Das werd’ ich nie vergessen. Und dann ist dieser frostige Winter gekommen, brrr! Da haben wir ja kaum gewußt, wie wir in der eisigkalten Wohnung unser frierendes Würmchen warmhalten sollten. Vielleicht ist aus deiner Mama ja deshalb so’n Frosteköddel geworden.« Und dann die Inflation: »Du leeve Tied! Zehn Millionen Mark für einen Liter Milch!«

      Opa saß kauend und schweigend dabei und fingerte sich Wurstfasern aus dem Gebiß.

      Ein Glück, daß wir den Krieg nicht gewonnen hatten. Sonst hätte ich jetzt in der Hitlerjugend dienen dürfen: Paraden, Schanzenbau und Wehrsport, das hätte mir ja nun echt noch gefehlt.

      Die Nachricht von dem Eisenbahnunglück stand am Mittwoch im Jeverschen Wochenblatt, und das war der Beweis für meine Unschuld:

       Zwei Mitarbeiter des Straßenbauamtes Aurich wurden am Montag bei einem Zusammenstoß mit einem Eilzug auf einem mit Lichtzeichen gesicherten Bahnübergang bei Loppersum (Kreis Norden) getötet. Nach Angaben der Polizei hatte der 54 Jahre alte Fahrer des Autos das Blinkzeichen nicht beachtet. Der Pkw wurde in der Mitte des Bahnübergangs des planmäßigen Eilzuges erfaßt und 25 Meter mitgeschleift.

      Nun wußte man ja schon mehr, aber mir war immer noch unklar, was ich da am Zugfenster vorbeifliegen gesehen hatte.

      Ein paar Tage davor war im Wochenblatt der Bericht von einer Tagung der Allianz-Versicherung erschienen, mit einem Foto von Opa, der bei dieser Tagung eine Rede gehalten hatte, auf plattdeutsch, im Audienzsaal des Schlosses. Den Artikel hatte Oma ausgeschnitten. In Jever gehörte Opa zur Lokalprominenz.

      In der Veranda wimmelte es von Ameisen. Die krabbelten durch ein Loch im Fensterrahmen herein und waren nach Opas Meinung auf irgendwelches Ungeziefer in den Topfpflanzen aus. Auf den Fensterbänken bekämpfte Oma die Ameisen mit Backpulver, das sie nicht abkonnten, und im Vorgarten mit kochendheißem Wasser: Das kippte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die verkehrsreichsten Ameisenstraßen. So erbarmungslos wie das eine Katervieh bei Wilhelm Busch:

       Ein schwarzer Kater schleicht herzu,

       Die Krallen scharf, die Augen gluh.

      Hinten