dann am Morgen: Schneeschippen! Ach du liebe Scheiße! Und als ich mich beim Mittagessen einmal kurz mit dem linken Ellenbogen auf dem Tisch abstützte, fauchte Papa mich an: »Nimm die Knochen runter!«
Zum Nachtisch gab es Diplomatencreme.
Olaf mußte abreisen, und Renate buk Berliner, heulend, und zwei davon packte sie ein. Die wollte sie Olaf per Paketpost zusenden, zum Trost. Renate und ihr Olaf, das war wie so ’n Fortsetzungsroman.
Um kurz nach sechs rief Oma Jever an, die neugierig war, ob wir schon ein Lebenszeichen von Mama vernommen hätten, und so gegen neune meldete sich Olaf, und Renate kam aus der Waschküche zum Hörer galoppiert.
Ja, ja, ja, ja,
Weißt nicht, wie gut ich dir bin.
An den Fotos von den nackten Nubierinnen hatte ich mich inzwischen so ziemlich sattgesehen, aber ich brachte es nicht übers Herz, die Ausgabe wegzuschmeißen, bevor ein ebenbürtiger Nachschub unter Dach und Fach war. Dieser alte Stern gammelte also weiter oben auf Wiebkes Kleiderschrank herum.
Morgens mußte Papa in der Garageneinfahrt das Eis von der Windschutzscheibe kratzen. In der Garage selbst war ja kein Platz für den Peugeot. Die war vollgestopft mit Brettern, Eimern und Gedöns.
Wenn man bei Zitaten die Gänsefüßchen vorne unten statt oben hinsetzte, so wie in gedruckter Schrift, sah das eindeutig besser aus, fand ich, doch der Wolfert strich mir das bei einer Deutscharbeit als Fehler an, der Arsch.
Und dann waren wieder die Bahnschranken unten, und es war noch immer kein Brief von Mama eingetroffen.
In der Musikschule kriegte ich Unterricht bei einem Herrn Radowski, der nur gebrochenes Deutsch sprach. Mitte dreißig, Vollbart und Nickelbrille. Ob der aus Albanien stammte? Oder aus der Tschechoslowakei?
Ich hatte die Noten vom »Türkischen Marsch« dabei, um meine Künste zu demonstrieren, aber der Radowski ließ mich das Stück nicht zu Ende spielen. Zur nächsten Stunde, sagte er, solle ich die »Zweistimmigen Inventionen« von Bach mitbringen, und er schrieb mir die Adresse eines Menschen auf, bei dem ich diese Noten kaufen könne. Irgendwo in Nödike.
In Mamas erstem Brief aus Afrika stand, daß man da abends im Dunkeln sitze, ohne Musik, bei verrammelten Türen und mit Schießprügeln in Reichweite, wegen der Gefahr, von Terroristen angegriffen zu werden.
»Da haben wir’s hier aber gemütlicher«, sagte Renate.
Aus einem meiner Fußballbücher wußte ich, daß die Boeing, mit der Mama und Oma Schlosser geflogen waren, die gleiche Nummer hatte wie die, mit der die deutsche Nationalmannschaft bei der WM ’74 nach dem Halbfinale von Frankfurt nach München gedüst war. Vielleicht hatte Mama auf dem Platz von Gerd Müller gesessen. Und Oma auf dem von Sepp Maier! Das hätte ich gern genauer gewußt.
Papa hatte, ohne mich um meine Zustimmung zu bitten, einen Zahnarzttermin für mich ausbaldowert: 9. 3., 16.45 Uhr, Praxis Dr. Kusenbrecher. Alle halbe Jahre müsse halt mal nachgesehen werden. Renate, die an einem kariösen Weisheitszahn litt, kam mit, und der Zahnarzt stemmte ihr ohne Betäubung den halben Rachen auf.
Bei mir lag gottseidank nichts vor. Allerdings hielt mir der Zahnarzt einen kleinen Fetzen Kopfsalat vor die Nase, den er aus meinem Gebiß gepolkt hatte. Mund ausspülen, Kittel ab, raus und sich vornehmen, beim Zähneputzen in Zukunft gründlicher vorzugehen.
Bei Ceka kaufte Renate sich danach das neue Asterixheft. Da schenkte Cäsar einem versoffenen alten Legionär das gallische Dorf, und der verkaufte es für ein Glas Wein an einen Kneipier, der sich dann dort niederließ und versuchte, mit allen Einwohnern gut auszukommen, auch mit Verleihnix, dessen stinkende Fische er hinterm Haus im Garten verbuddelte. Skeptisch blieb nur der alte Methusalix: »Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben, wo sie hingehören. Wenn sie aber kommen, hab’ ich keine Lust, zu ihnen zu gehören!« Es gab auch noch eine große Klopperei zwischen Galliern und Römern, und ein römischer Offizier sagte danach: »Sehr fein, Legionär Hochgenus! Feg das hier zusammen, und dann Schwamm drüber!«
Abends rief Oma Jever wieder an: Sie und Opa hätten einen Brief von Mama vorgefunden und den mit großer Freude und heißem Interesse gelesen! Und wie schön es doch sei, daß Mama nun mal richtig rauskomme aus ihrem Haushalt! Sie selbst, also Oma, sei immer noch bei Tante Doktor in Behandlung, weil das Herz nicht kräftig genug arbeite, Gustav büffele oft bis in die Nacht, und was Omaruru betreffe, unter diesem Namen werde demnächst eine Fernsehserie gedreht, ob wir das schon wüßten? Mit Katinka Hoffmann in der Hauptrolle. Der Bruder von der lebe auf einer Farm im südlichen Afrika …
Im Fach Chemie, das nun leider ebenfalls erteilt wurde, von einem alten, aus dem Ruhestand zurückgeholten Pensionär, lernte ich die Eigenschaften von Sauerstoff und Stickstoff kennen und in Physik die Kräfte und Geschwindigkeiten als Vektorgrößen. Was eine Vektorgröße war, konnte ich mir aber höchstens eine Minute lang merken; dann war alles wieder weg.
Beim Belenus!
Mama hatte jedem von uns eine Ansichtspostkarte geschickt.
Lieber Martin, rate mal, wen ich nächste Woche kennenlerne: einen christlichen Herero-Häuptling, der hier großes Ansehen genießt. Die anderen Schwarzen gehören entweder zu den Hereros, zu den Ovambos oder Namas. Auch Mischlinge gibt es viele, die heißen auf africaans basters. Viele Grüße, Deine Mama!
Basters, das klang unschön. Fast wie Bastarde. Wie es denen da wohl ging, den Mischlingen in Südwestafrika? Krauchten wahrscheinlich auf Müllkippen rum, ausgemergelt, Fliegen im Gesicht und Baby auf’m Buckel, und sie litten an Malaria und hatten Hungerödeme, und die weiße Oberschicht pellte sich da ’n Ei drauf.
Abends telefonierte Renate tierisch lange mit Olaf, und dann fing im Ersten eine neue Krimiserie an, mit James Garner. Wenn der angerufen wurde und schlief oder nicht zuhause war, setzte sich bei dem automatisch ein Band mit seiner Stimme in Bewegung: »Hier ist Jim Rockford. Bitte nennen Sie Ihren Namen, Ihre Nummer, ich rufe zurück.«
Einserseits praktisch, so ’ne Erfindung, aber andererseits auch seltsam, wenn man sich dann als Anrufer mit ’nem Gerät unterhalten sollte.
In der ersten Folge war einer auf der Suche nach den Killern seiner Eltern, und der Detektiv sollte ihm helfen, doch der Sohnemann war seinerseits verdächtig. Jim Rockford hatte selbst schon mal im Knast gesessen, fünf Jahre lang, und zwar unschuldig, und dann platzte Papa zur Terrassentür rein: »Bring jetzt gefälligst das Scheißfahrrad nach unten!«
Spaßeshalber kaufte ich mir mal die Bild-Zeitung, für 25 Pfennig. »Minister Bahrs Villa ausgeraubt«, oho, aha! Und noch eine Schlagzeile: »Scheidung! Johannes Mario Simmel verließ Gräfin Lulu« – als ob man die hätte kennen müssen, diese Gräfin, und als ob einem deren Eheleben nicht schietegal wäre.
In meinem Horoskop stand, daß ich impulsive Handlungen vermeiden solle, besonders in den späteren Nachmittagsstunden, und daß es ratsam sei, Vergnügungen auf den morgigen Tag zu verschieben. Welche Vergnügungen? Alles, was ich bis zum Abendbrot noch vorhatte, war die Fahrt nach Nödike, zu dem Notenverkäufer. Das war ein alter Knacker, der mir an der Tür im Bademantel gegenübertrat, im zweiten Stockwerk einer Mietskaserne.
»Guten Tag, ich hätte gerne die zweistimmigen Interventionen von Bach.«
»Gibt’s nicht!« bellte der Opa. »Von Bach gibt’s nur Inventionen, aber keine Interventionen!«
»Meinte ich ja auch.«
Aus einem schiefen Notenstapel auf dem Schlafzimmerschrank zerrte er das richtige Heft hervor. In der Wohnung roch’s nach kalter Asche und Hundefutter, die Bettdecken waren zerwühlt, und als ich bezahlt hatte, ließ der Opa, während er das Wechselgeld herauskramte, freimütig einen fahren.
Und dann hätte ich noch Unkraut schöveln sollen, aber das verschob ich auf morgen.
»Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute«, gnatzte Renate, die dabei war, den Staub von den Zimmerpflanzenblättern