Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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bei den Nachbarn durchs offene Küchenfenster in den Suppentopf gesegelt. Den Jungen gebe es wirklich, hatte Michael gesagt.

      Daß ich meinen Fußball in Vallendar liegengelassen hatte, fiel mir erst auf, als wir schon auf der Autobahn waren, zwischen Leverkusen und Wuppertal.

      Im Achtelfinale des DFB-Pokals hatte Fortuna Düsseldorf Gladbach mit 3:2 abserviert. Das Spiel hätte auch anders enden können, aber das Ergebnis nährte meine Zweifel an Udo Latteks Trainingsmethoden. Mit dem Lattek würde ich bei Gladbach wahrscheinlich noch schwer aneinandergeraten.

      Mama rief Tante Therese an und vereinbarte mit ihr einen Besuch zu Ostern. Dann würde auch Volker mitkommen.

      Oma Schlosser wiederum lud Mama telefonisch zu einer Reise nach Südwestafrika ein, nach Windhuk, genauer gesagt, in die dreißig Kilometer südlich von Omaruru gelegene Farm von Oma Schlossers Jugendfreundin. Im März wäre das dann. Renate könnte solange in Meppen den Haushalt führen, und für Mama würde sich die einmalige Möglichkeit eines Abstechers nach Tzaneen eröffnen, wo eine Schulfreundin von ihr wohnte.

      Ich holte meinen Diercke-Atlas raus.

      Die in Südwestafrika wohnende Bekannte hatte Oma seit 1913 nur dreimal wiedergesehen, 1929 und 1953 in Deutschland und dann 1969 in Afrika.

      Papa war nicht sonderlich erbaut von der ganzen Angelegenheit, wegen der Terroristen, die sich da im Busch tummelten. Man wisse ja, worauf man sich in der Dritten Welt gefaßt machen müsse. Eben erst waren bei einem Erdbeben in Guatemala mehr als zwanzigtausend Menschen umgekommen.

      Ich lud Michael und Holger zu einem Osterferienbesuch nach Meppen ein und versorgte sie mit Auskünften über meine neue Englischlehrerin, Frau Gewonk, die Herrn Rieß vor kurzem abgelöst hatte: Dauerwelle, breites Kreuz und ’ne Brille, die so aussah, als ob die Gewonk die sich verkehrtrum aufgesetzt hätte. Die Bügel verliefen von unten nach oben.

      Mama trug sich währenddessen mit dem Gedanken, mich auf das katholische Maristengymnasium zu schicken, weil es da mehr Unterricht gab. Schreck laß nach!

      Anfang Februar erhielt ich einen neuen Brief in Schreibmaschinenschrift von Michael.

       Lieber Martin!

       Zuerst will ich Dich trösten: Uns ist auch sehr langweilig, seit Du weg bist. Denn denkst Du, daß ich stinkend faule Sau aufbreche, um mit meinem Bruder eine Fahrradtour zu machen? Denkste. Nix da.

       Und dann muß ich was zu Deinen Ferienplänen sagen: Wir haben keine Pralinen. Auch keine Salami. Und erst recht keine Quality Street. Doch mit Abwasch kann ich dienen. Zur Genüge.

       So, jetzt was anderes. Mir ist hundeelend. Mein Kopf dröhnt, meine Mandeln scheinen sich aufgeblasen zu haben, und morgen werden wir ’ne Mathearbeit schreiben. Tja, das Leben ist hart, mein Junge. Mensch, rede ich einen Blödsinn. Das kommt von der Langeweile. Gehirnverkalkung mit Auflösung des Denkvermögens.

       Was ist denn mit dem Farbband von der Schreibmaschine los? Alles so dünn hier … außerdem rasselt die so komisch, wenn ich tippe … hoppala, vielleicht liegt’s an dem Hebel da … nxet flab krkst krkrk iwwtofl droch neicht. Siehste, jetzt geht’s wieder. Ich muß nur fester aufdrücken.

       So, ich bin gerade aus Konfi wiedergekommen. Das einzige Interessante war, daß die Frischke hier oben ein Sozialheim für Waisenkinder hinknallen will, neben die Kirche. Die armen Kinderchen, die da hinmüssen …

       Als wir wieder raufgingen, verstellte uns ein großer Laster den Weg, und wir mußten einen Riesenumweg machen. In der Gartenstadt wollten wir dann per Anhalter weiter. Bald kam auch eine gute Seele und nahm uns bis zur Sprungschanze mit. Dann gingen wir bei Eiseskälte zu Fuß weiter hoch. Meine Ohren tun mir jetzt noch weh, ich hatte nämlich keine Mütze auf.

       Und nun müßte ich noch Mathe lernen, aber ich hab beim besten Willen keine Lust dazu. Und einen noch besseren Willen als den, den ich gerade habe, kann ich nicht aufbringen.

       Mist, die Schreibmaschine fängt schon wieder so komisch zu rasseln an. Wenn die jetzt draufgeht, bist Du’s schuld, alleine Du! Wenn Du Deinen Brief nicht mit Schreibmaschine geschrieben hättest, dann hätt’ ich meinen auch nicht mit Schreibmaschine geschrieben. Also kannst Du blechen. Du, Du, Du!

       O Gott, die Langeweile. Die wird mich noch meine ohnehin schon kaputten Nerven kosten. Und wenn ich die Arbeit verhaue und erfahre, daß Du mir nicht die Daumen gedrückt hast, dann … dann …

       Tschö, Dein Michael

      Im Englischbuch war ein Plakat aus den USA abgebildet, von 1829: Bei einer Auktion würde es zwölf Sklaven zu kaufen geben, zwischen 14 und 40 Jahren, und außerdem Reis, Bücher, Stoffe und Nähsachen.

      »Tjaja«, sagte Volker, »die Amis!« Hatten die Neger versklavt und die Indianer ausgerottet, aber auch die besten Raketen gebaut, von der Sputnik mal abgesehen.

      Mittlerweile war es amtlich: Oma Schlosser und Mama würden Ende Februar nach Afrika fliegen. Papa sagte, daß ihn da keine zehn Pferde hinkriegten, und er äußerte sich geringschätzig über Mamas Zigeunerblut.

      Wiebke sollte ihre Zöpfe abgeschnitten bekommen und wurde vorher geknipst, von hinten und von vorne, auf der Terrassenmauer und in der Gartenschaukel.

       Movie Star, Movie Star, ahaha,

       You think you are a Movie Star …

      Die Hamsterscheiße aus Pepiks Käfig mußte sie trotzdem noch wegmachen.

      Im Fernsehen kam nur Käse. Olympische Winterspiele: Biathlon, Eiskunstlauf und Zweierbob. Wen das wohl interessierte, ob da zwei Bobfahrer ’ne Hundertstelsekunde schneller gewesen waren als die Bobfahrer davor.

      Beim Elternsprechtag hatte Mama mit dem Schlüter über mich geredet. Der habe sich dahingehend geäußert, daß mir ein Schlüsselerlebnis fehle.

      Schlüsselerlebnis? Wie bitte? Was? Der Schlüter machte sich Gedanken über mich und meine Erlebnisse?

      Gegen den neuen Tabellenzweiten HSV holte Gladbach nur ein Unentschieden heraus, hatte aber fünf Punkte Vorsprung.

      Vom Spielfeldrand aus feuerte Uli Möller uns an, als ob wir nicht die C-Jugend des SV Meppen gewesen wären, sondern die erste Mannschaft von Lokomotive Leipzig oder Partisan Belgrad.

      »Sauber!«

      »Geh, geh, geh!«

      »Und Flügelwechsel!«

      »Den kriegst du noch!«

      »Ecke! Das war Ecke, Schiri!«

      »Glübi, Achtung! Hintermann!«

      »Wo sind wir denn hier? In der Villa Kunterbunt?«

      »Los, los, los, ihr lahmen Scheißer! Alles nach vorne jetzt!«

      »Mann, nun spiel doch endlich ab, du Blindfisch! Didi steht frei!«

      Zwischendurch stieß Uli Möller martialische Pfiffe aus, mit Daumen und Mittelfinger in den Mundwinkeln, und als Glübi mir im Strafraum einen riskanten Paß zuspielte, schien Uli Möller einmal fast einem Herzinfarkt zu erliegen.

      Am Montag wies der Schlüter mir einen neuen Platz in der Klasse zu, neben dem Gerdes. Dessen Vater war Maurer. Geschwister hatte der Gerdes auch drei: eine ältere Schwester, einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Genau wie ich. Mit dem verstand ich mich auf Anhieb gut.

      Statt meine Briefe mit der Hand zu schreiben, setzte ich mich immer öfter in Papas Arbeitszimmer an Mamas Schreibmaschine. Ein Papier einspannen, die Walze drehen, und los ging’s. Zwei-Finger-Adler-Suchsystem. Ort und Datum oben rechts, und dann die Anrede links (»Liebes Marzipanschwein!«).

      »Hack nicht so auf der guten Maschine rum!« rief Mama aus dem Wohnzimmer rüber, wo sie