Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Aurich ist es schaurig und in Leer noch viel mehr.

      Mama wies uns auf die alte Mühle in Bagband hin und trällerte ein Lied übers Jeverland:

       Mien Jeverland, wo leev ik di, daar liggt mien Hart, mien Glück!

       Daar liggt de ganze Welt vör mi, daar tüschen Warft un Diek.

       Daar liggt dat all in’n Sünnenschien, un wat ik seh, is mien, is mien –

       daar sün ik tohuus! Daar sün ik tohuus …

      Sie kriegte sich überhaupt nicht mehr ein, als sie das sang.

       Daar liggt mien Dörp, mien School, mien Kark,

       dar kenn ik Boom un Struuk …

      Je näher wir dem Ziel kamen, desto mehr freute ich mich auf das Bauchkribbeln, das sich früher jedesmal gemeldet hatte, wenn in der Mühlenstraße Omas und Opas Haus Vorgartenzaun in Sicht gekommen war, aber das Kribbeln blieb aus. Ob das mit dem Erwachsenwerden zusammenhing?

      Auf der Haustreppe lief Oma Jever uns mit offenen Armen entgegen. »Oh, ihr Lieben alle! Da seid ihr ja endlich!« Erst durch Omas Entzückensschreie stellte sich bei mir das altvertraute Kribbeln ein.

      Im Flur standen Tante Gisela, Tante Dagmar und Gustav Spalier. Opa saß justament auf dem Klo, von wo man ihn husten hören konnte, und im Wohnzimmer hing eine neue Hängelampe von der Decke.

      Tante Dagmar zeigte mir ihr Fahrrad. Das war eins mit Tacho und 26er-Reifen. Ich drehte eine Runde durch die Stadt, vorbei am Schloß und an der Brauerei, am Friedhof und am Bahnhof lang und dann durch die Anton-Günther-Straße wieder zurück zur Mühlenstraße. Kilometerstand 1768.

      Im Wohnzimmer trug Oma Schalen und Schüsseln mit Rinderbraten, Kartoffeln und grünen Bohnen auf und zum Nachtisch Brombeerpudding mit schaumig gerührtem Brombeersaft. Sie nannte das »Mädchenmund«, weil ein Gast von ihr dazu mal gesagt hatte, daß diese Süßspeise so lieblich schmecke wie ein Mädchenmund.

      Die Standuhr gongte. Zwei Uhr nachmittags.

      »Elf Personen hast du hier gemästet, Mutti«, sagte Mama, »und nun mach mal halblang! Immer sutje! Und den Abwasch überläßt du bitte deinen vollgefressenen Töchtern!«

      In der Mittagsschlafenszeit spielten Gustav, Renate, Volker, Wiebke und ich in der Küche Denkfix. Fragekarten ziehen und die rote Scheibe mit der Lücke zur Bestimmung des Anfangsbuchstabens drehen. Eine Heldengestalt mit U?

      »Uwe Seeler!« rief ich, aber das ließen die anderen mir nicht durchgehen. Gustav behauptete sich dagegen mit »Ulysses«.

      Ein Wort aus der Bibel, schon wieder mit U.

      »Und!« rief ich, aber auch damit konnte ich keine Ehre einlegen. »Das gildet nicht«, sagte Volker, obwohl das Wort »und« in der Bibel wahrscheinlich öfter vorkam als jedes andere.

      »Upharsin«, sagte Gustav, unser Bücherwurm. Das stehe so im Alten Testament. »Mene, mene, tekel upharsin.«

      Die meisten Fragen, die man da beantworten sollte, waren schwer: Was ist Liebe? Wie soll man sich benehmen? Was wünschest Du Dir? Ein Wort aus der Elektrotechnik, Anfangsbuchstabe P, eine Einrichtung des öffentlichen Lebens, Anfangsbuchstabe X, oder ein Wort, das ein neues ergibt, wenn der letzte Buchstabe wegfällt, so wie in Pappel, und dann sollte man eins finden mit dem Anfangsbuchstaben Ypsilon. Welche Wörter fingen schon mit Ypsilon an, außer Yoga, Yps und Ypern?

      Das ganze Spiel war darauf angelegt, Zwietracht zu provozieren, mehr noch als Mensch-ärgere-Dich-nicht oder Mikado, und da ging ich lieber in den Schloßgarten, die Enten füttern und nach Pfauenfedern suchen.

      Zum Tee schnitt Oma einen von Gustav gebackenen Klaben auf. Mama schimpfte über die Zugluft in unserem Haus, und Oma erzählte von der überspönigen Frau Apken, die nun schon so lange im Altersheim vor sich hin vegetiere. Die hatte früher auch in der Mühlenstraße 47 gewohnt, aber dann den Verstand verloren. Über Volker und mich habe sie gesagt: »Mensch, die sind aber groß für den Alter!« Immer »für den« und nie »für das«, weil sie’s halt nicht besser gewußt habe. Oma und Opa habe sie mit ihrem mitternächtlichen Gekokel am Gasherd fast noch das Dach über dem Kopf angezündet. Und dann im Morgenmantel nachts auf die Straße gelaufen, auf der Suche nach ihren Kindern: »Die wissen ja nicht, wo ich bin!«

      In Meppen hievten Papa und Volker und ich die Eisenbahnplatte in den Keller. Da konnte sie nun vergammeln. Papa hatte zwar einen ganzen Panzerschrank voller Waggons und Loks, aber fahren ließ er die nie. Mama hätte ihm auch was gehustet, wenn er seine Freizeit am Modelleisenbahntrafo verbracht hätte, statt endlich den VW zu reparieren oder was sonst wieder kaputt war.

      In einem Western, in dem Steve McQueen als Halbblut Rache für den Mord an seinen Eltern nehmen wollte, erkannte ich einen der Killer an seiner Kartoffelnase wieder. Derselbe Schauspieler war später in den Straßen von San Francisco als Gesetzeshüter aufgetreten: Lieutenant Mike Stone alias Karl Malden.

      Den mochte Mama, doch das hielt sie nicht davon ab, mitten im Showdown ins Erste umzuschalten, weil da eine Schmonzette anfing, die sie vor zwanzig Jahren mal im Kino gesehen hatte. Eine saublöde Verwechslungskomödie mit einem Millionär, der einen armen Schlucker mimt, und einem Arbeitslosen, der für einen Millionär gehalten wird, und dann läuft zwischen denen alles drunter und drüber.

      Wer wissen wollte, wie der Western ausging, durfte auf die Wiederholung in fünf Jahren warten.

      Mit Tante Dagmars Rad machte das Fahren gleich viel mehr Laune als mit dem schittrigen Klapprad, auch wenn es natürlich ein Damenrad war. Wozu die Längsstange zwischen Lenker und Sattel bei Herrenrädern gut sein sollte, hatte ich sowieso nie verstanden.

      Ich fuhr in Richtung Rühlermoor. Mal kucken, was es da so gibt, hatte ich mir gedacht, aber da gab es auf weiter Flur nichts anderes als Schietwetter und Gegenwind und klamme Finger.

       O Kinderzeit, o Jugendglück,

       für kein Geld der Welt kommst du zurück!

      Zurück wäre ich lieber mit dem Bus gefahren.

      Im Dritten kam der »Seewolf« in einer alten Schwarzweißverfilmung aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Starring: Edward G. Robinson. Das war der, der auch den Kopf der Spielcasinodiebesbande gespielt hatte. Als Kapitän der »Ghost« schurigelte er seine shanghaite Crew nach Strich und Faden, aber Raimund Harmstorf hatte mir trotzdem besser gefallen. 1941 war Edward G. Robinson für die Rolle schon zu alt gewesen, fand ich.

      Matrosen mußten sich von Schiffszwieback, Schellfisch und Dörrobst ernähren. Noch ein Grund mehr, das Abi zu bestehen und einen Beruf zu ergreifen, in dem man sein eigener Chef war.

      Am Sonntag vor Silvester gab’s Reis mit Paprika und für jeden ein Stielkotelett. Die Knochen durften nicht in den Komposteimer geworfen werden. »Sonst rücken uns die Ratten auf die Pelle«, sagte Papa.

      Die Tatsache, daß er seinen Nachtischteller auslöffelte, ohne zu sagen, daß die Quarkspeise wie Zement schmecke, konnte Renate als großen Erfolg verbuchen.

      Mit Volker spielte ich wieder Monopoly. Nach ein paar Runden, in denen wir beide im Gefängnis gesessen, aber auch einige Anteile an Straßenzügen erworben hatten, tauschte ich mit Volker sieben Straßenkarten aus, um Häuser und Hotels errichten zu können. Leider verausgabte ich mich dabei finanziell so stark, daß ich die Miete für den Aufenthalt in der Prinzenstraße nicht mehr berappen konnte. Volker war so gnädig, anstelle der Knete den mit einer Hypothek belasteten Westbahnhof zu übernehmen.

      Das Lästigste an Monopoly war das Geldzählen. Wenn man die Scheine nicht akkurat stapelte, verlor man sofort den Überblick.

      Volker war soeben auf die in meinem Besitz befindliche Schillerstraße getappt, als Renate uns zur Kuchentafel nach unten rief. Papa sagte, daß er seinen Wanst noch voll vom Mittagessen habe, und dann murkste er im Keller rum,