Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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können. Oder hirngeschädigt und rollstuhlreif, und der Typ hätte die Kosten für siebzig Jahre Klapsmühle übernehmen müssen.

      Um das demolierte Rad nachhause zu befördern, mußte ich es beim Schieben vorne anheben und mich dabei anglotzen lassen.

      Und die Bahnschranke war wieder unten.

      Mit dem Mittagessen hatten die andern schon angefangen. Kartoffelbrei, Spinat und Spiegeleier. Eins von Mamas sieben Standardgerichten, und nicht das schlechteste, obwohl die sich nicht groß was nahmen. Die übrigen sechs waren Kartoffeln mit Klopsen und Bohnen, Kartoffeln mit Klopsen und Erbsen, Kartoffeln mit Klopsen und Möhren und Kartoffeln mit Gulasch und Blumenkohl sowie Spaghetti mit Spiegeleiern. Gerichte mit Koteletts, Schnitzeln und Hähnchen kredenzte Mama uns nur sonntags. Ente, Gans oder Kaninchen blieben hohen Feiertagen vorbehalten.

      Wo ich mich so lang herumgetrieben hätte, wollte Mama wissen. Das Essen werde ja schon kalt!

      »Mir ist einer reingefahren«, sagte ich, doch das schien niemanden zu interessieren. Ich hatte geglaubt, das sei die Sensation des Tages, aber bitte, wenn man hier noch nicht einmal als Verkehrsunfallopfer im Mittelpunkt stand, konnte ich auch die Klappe halten. Hätte ich ja nicht gedacht, daß Mama und Papa so gelassen auf die Nachricht reagierten, daß mir einer reingefahren sei. Die quatschten einfach weiter übers Finanzamt und Papas Versorgungsbezüge. Man lernte doch wirklich nie aus.

      Zum Nachtisch gab’s Kirschjoghurt. Ich saß als letzter Mann am Tisch. Volker und Papa hatten hinten im Wohnzimmer schon ihre Kaffeetassen leergepichelt, und ich kratzte gerade meinen Joghurtbecher aus, als Papa reinkam, aufgeregt wie ein Handfeger, und mich fragte, was um Himmels willen mit dem Fahrrad los sei. Ich hatte es im Vorgarten an die Teppichstange gelehnt, und da mußte Papa es erblickt haben, auf dem Weg zum Peugeot.

      »Hab ich doch gesagt! Da ist mir einer reingefahren!«

      »Reingefahren! Und wer ist dir da reingefahren? Etwa ’ne Dampfwalze?«

      Jetzt kam auch Mama angeschossen. Ob ich noch klar bei Verstand sei? »Mann Gottes! Du sitzt hier seelenruhig rum und löffelst Joghurt, ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß du fast draufgegangen wärst im Straßenverkehr! Junge!«

      »Wieso? Ich hab euch doch gesagt, daß mir da einer reingefahren ist!«

      »Reingefahren, ja, aber wir haben doch alle angenommen, daß du mit ’m Radfahrer zusammengerasselt wärst! Und nun erklär dich mal!«

      Als ich das getan hatte, rief Mama den Käferfahrer an und ließ sich von dem alles bestätigen. »Und du hättest trotzdem besser die Polizei rufen sollen«, sagte sie, als sie aufgelegt hatte. Man könne nie wissen.

      Den Nachmittag verbrachte Mama brötchenschmierenderweise in der Küche und den frühen Abend im Elternschlafzimmer vorm Garderobenspiegel, wo sie sich verschiedene Halsketten umhängte, um abzuschätzen, ob die farblich zum Abendkleid paßten. Danach ging sie zu Haarspray und Lippenstift über und machte kauzige Bewegungen mit dem Mund, um den Farbstoff gleichmäßig zu verteilen. Wie Cheetah beim Betteln um ’ne Banane.

      Im Spiegel sah Mamas Mund immer irgendwie schief aus.

      Dann kamen fünf Ehepaare hereingeschneit, aus Esterfeld, Rühle, Nödike und Twist und eins sogar aus Emmer-Compascuum. Mama hatte massenweise Besäufnisse organisiert für die Gäste, und es gelang mir, eine Flasche Bier für mich selbst abzuzweigen und die in mein Zimmer zu schleusen. Mit einem halben Liter Bier in der Blutbahn würde ich leichter darüber hinwegkommen, daß ich im zweckentfremdeten Wohnzimmer den Western mit Gary Cooper nicht kucken konnte.

      Als ich mich schlafen legte, war unten noch Halligalli. Und wie!

      Im Keller wurstelte Papa an dem in tausend Einzelteile zerlegten Moped herum. Wie Daniel Düsentrieb, bloß langsamer.

      Und wozu das ganze? Damit Volker durch die Wallachei karriolen konnte, ohne Sinn und Verstand, denn es gab ja kein einziges lohnendes Ausflugsziel, sondern überall nur Äcker, Weiden, Gräben, Zäune, Matsche, Moor und Lehm und öde Käffer. Links ’ne Pappel, rechts ’ne Pappel. Auch die Hünengräber, von denen ich mir wer weiß was versprochen hatte, machten den Kohl nicht fett. Die Germanen, die da in grauer Vorzeit irgendwelche Findlingsblöcke aufgetürmt hatten, mußten sich auch schon ziemlich stark gelangweilt haben, denn sonst hätten sie das gelassen.

      Nicht mal schlittenfahren konnte man in Meppen, mangels Gefälle. Die höchsten Bodenerhebungen im Umkreis von einhundert Meilen bildeten die Maulwurfshügel am Haseufer. In Koblenz hatte ich mich zwar auch vieles angeödet, der Stinkebus, die Schule und vor allem das Berghochlatschen nach Katche, aber da war wenigstens noch Leben in der Bude gewesen. Neulich hatte sich da sogar mal ’ne Frau aufgehängt, und alle naselang war Hochwasser oder sonst irgendwas.

      Michael und Holger schrieb ich, daß sie doch mit ihren Rädern per Bahn nach Meppen kommen könnten, in den Osterferien oder spätestens in den Sommerferien, und dann würden wir zusammen zurück nach Koblenz radeln. Am Dortmund-Ems-Kanal lang und dann durchs Sauerland zum Rhein. Mit ’nem Dreimannzelt, Flickzeug, Proviant und Kilometerzähler. Heidewitzka!

      Beim Abendbrot rühmte sich Mama, daß ihre Aufschnittplatten gestern aufs höchste gelobt worden seien von den Besuchern, und da ließ Papa wieder einmal seinen gehässigen Schnalzlaut hören, für den es keine passenden Buchstaben im Alphabet gab. In manchen Büchern sagten die Leute zwar »Ts, ts!« oder »Dz, dz, dz!«, aber Papas Zungenschnalzen klang anders, und es bedeutete ungefähr soviel wie: »Es ist doch wirklich unfaßbar, mit welchen Idioten ich ’s hier zu tun habe.« Er machte es ziemlich oft, und eben auch jetzt, und dann wies er Mama zurecht: »Hätten die etwa sagen sollen, also, das war ja vielleicht ’n widerlicher Schweinefraß, den Sie uns da vorgesetzt haben?«

      Ich mußte lachen, aber Mama lief weinend nach oben und schloß sich im Elternschlafzimmer ein. Und Papa verschwand im Keller.

      Überschrift: Familienleben.

      Am Montagmorgen schleppte ich das kaputte Fahrrad zu Geyer und wurde gleich angeblafft, als ich da vorn durch die Ladentür wollte: »Hier doch nicht! Hintenrum! In die Werkstatt!«

      Hätten die Ärsche das nicht draußen dranschreiben können?

      In zwei Tagen, hieß es, könne ich das Rad wieder abholen. Solange durfte ich zu Fuß durch Meppen schlurfen.

      Mama hatte Weihnachtsgeschenke für die Jeveraner eingepackt: Kalender, Pralinen, Rasierwasser und noch andere Drogeriewaren. Ich sollte meine Zeigefingerspitze auf die Paketschnurschleife pressen, damit Mama einen strammen Knoten binden konnte. Für Onkel Dietrichs eine Tochter, deren Patentante sie war, hatte Mama ein Puppenservice und einen Spielzeugmixer gekauft und für Tante Hanna ein Buch mit Redensarten und Versen in ostpreußischer Mundart.

       De Oadeboar, de Oadeboar, de steiht op sinem Nest,

       un wöll er sick e Varjneege moake, denn klappert er mit sine Freß.

      In das Paket für Tante Therese stopfte Mama ein Marzipanbrot, Wiebkes krummscheibelig bemalten Kerzenständer und eine sogenannte Schwedenkerze, die aber für den Karton eine Nummer zu dick war. Der platzte immer wieder auf, trotz Tesafilm, und Mama kriegte fast zuviel. Zu guter Letzt klebte Papa drei Meter Paketband drumherum, so fest, daß man sich fragte, mit welchen Einbruchswerkzeugen Tante Therese das Paket wieder knacken sollte.

      Wiebke wünschte sich zu Weihnachten einen Goldhamster und hatte sogar ein Gedicht deswegen verbrochen, mit bunten Filzern, jede Zeile in einer anderen Farbe:

       Ein Goldhamsterchen ist ein reinliches Tier;

       ich hätte es gerne zuhause bei mir.

       Pepik würde ich es nennen

       und mich nie mehr von ihm trennen.

       Ich würde ihm ein Häuschen geben

       und meinen Pepik gern pflegen.

       Aber meine Eltern sind dagegen.