Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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man sonst nichts zu erledigen hätte! Und nun soll ich hier noch Plätzchen backen, um der Dritten Welt ’n Gefallen zu tun!«

      Nachdem Pastor Böker das Backwerk eingesammelt hatte, zählte er die prägenden Kennzeichen der Vorweihnachtszeit auf, das Warten und das Wartenkönnen. Alle würden warten: Kinder, Heranwachsende und Erwachsene. Wer nicht warten könne, der habe ein Stück des Menschseins verloren. »Aber worauf warten?«

      Aufs Christkind?

      »Wir warten auf Gott und sein Tun«, sagte Pastor Böker. »Menschen warten darauf, daß andere etwas tun. Wir werden aber auch erwartet. Das ist es, was uns aus der stillen Wartehaltung heraustreibt.« Wir würden von vielen Menschen erwartet, mit unseren Worten und unserem Tun. Und hinter diesen Menschen stehe Gott selbst, der auf uns warte. »Gott wartet auf uns, auch heute. So lieb hat uns alle Gott.«

      Und wo erwartete uns Gott? Im Jenseits. Das konnte ich nun wieder erwarten. Mir war das ganze Christentum schon längst nicht mehr so recht geheuer. Hexenverfolgung und Ketzerverbrennung, das konnte es doch wohl nicht sein, was Jesus gewollt hatte bei seiner Verkündigung des Evangeliums der Liebe. Und ob Jesus selbst wirklich jemals am Leben gewesen war und Wundertaten vollbracht hatte? Die Brotvermehrung und die Speisung der Soundsovielen? Ich hatte da meine Zweifel. Auch an der jungfräulichen Empfängnis und der Sache mit der Wiederauferstehung. Als kleiner Junge hatte man noch alles geglaubt und sich einen vom Pferd erzählen lassen, aber über dieses Alter war man hinaus, wenn man auf die 14 zuging.

      Mama kam mit aufgedonnerter Frisur aus der Stadt zurück. Wobei, Frisur war untertrieben; das war mehr so ’ne Art Astronautenhaube. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Papa sowas schön fand. Es war fraglich, ob das überhaupt irgendein Mann auf der Welt schön finden konnte. Aber weshalb rannten die Weiber dann alle wie besessen zum Damenfriseur und zahlten auch noch Geld dafür, so abartig verunstaltet herumzulaufen?

      Gladbach verpaßte Kickers Offenbach mit einem 2:0 einen Denkzettel und stand damit als Herbstmeister fest, weil Braunschweig in Bochum verloren hatte. Die Herbstmeisterschaft war zwar nur die halbe Miete, aber doch ein Indikator für den weiteren Verlauf der Saison. Davon ging ein gewisser Signalcharakter aus, der auch psychologisch ins Gewicht fiel.

      In der Küche spickte Mama unseren alten Adventskranz mit frischem Tannengrün und machte sich dann für den großen »Ball der Ingenieure« fein, der irgendwo im Herzen Meppens steigen sollte. Papa mußte aus Loyalität zu seinem Betrieb daran teilnehmen, und Mama freute sich darauf, mal unter andere Leute zu kommen als unter Volker, Wiebke und mich. »Von euch Jöselpötten hab ich für heute genug!«

      Und so konnte ich mir spätabends in aller Seelenruhe einen Western ankucken, mit Schießereien, Banküberfällen und Lynchjustiz, ohne mir Mamas Kommentare dazu anhören zu müssen.

      Volker wünschte sich zu Weihnachten, daß Papa sein altes Moped wieder flottmachte, die Victoria. Zwanzig Jahre hatte die auf dem Buckel und war 1962 stillgelegt worden.

      Papa verdrehte die Augen. Da müsse er ein neues Getrieberitzel beschaffen, und nach all den Jahren wäre das wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

      Da wuchs man nun zum jungen Mann heran, aber das Aufstehen fiel einem tausendmal schwerer als damals im Vorschulalter. Wer wollte schon aufstehen, wenn die einzige Verlockung auf dem Weg vom Bett in die Penne und zurück in einem winzigen Adventskalenderschokoladenhäppchen bestand?

      Mathe, Franz und Geschi. Johannes Gutenberg: Der hatte die Buchdruckerkunst erfunden und war trotzdem in bitterer Armut gestorben. Wenn der Typ mal ’ne moderne Buchhandlung von innen gesehen hätte, wäre er bestimmt hintenübergekippt.

      Die größte in Meppen hieß Meyer. Nah an der Schule, gegenüber vom Rathaus. Bei Meyer streifte ich von Zeit zu Zeit durch die Regalreihen, aber die Bücher und selbst die Taschenbücher waren alle zu teuer für mich.

      Einmal trat mir da der Gerdes auf den Fuß: »Du auch hier?«

      »Die Welt ist doch ein Dorf!« hätte ich antworten können, wenn ich schlagfertig genug gewesen wäre. Oder auch: »So sieht man sich wieder!«

      Der Gerdes erzählte mir, daß sein älterer Bruder in Bielefeld Soziologie studiere und daß die da auch Seminare über Sexualität abhielten. Die nähmen kein Blatt vor den Mund, die Herren Studenten. Da werde alles aufgerollt.

      Mama ging schon wieder aus, zu irgendeinem Damenkränzchen. Die wollte es jetzt wohl wissen, schien mir, und ich freute mich auf den nächsten Western ohne Mamas Genöcker, aber dann kam plötzlich Papa mit ’ner Flasche Bier ins Wohnzimmer und pflanzte sich dazu. Das machte er sonst frühestens um elf.

      John Wayne verkörperte diesmal einen Bankräuber, der mit zwei Komplizen auf der Flucht war. Längelangs durch die Salzwüste von Arizona, und das mit knochentrockener Kehle. Irgendwann stießen sie auf einen Planwagen und darin auf eine schwangere, von ihrem Mann im Stich gelassene Frau. Der mußten sie beim Gebären helfen, ohne einen Funken Sachverstand, und als sie kurz danach starb, war das Trio erst recht angeschmiert: Was sollten die drei entkräfteten Rowdys in der Wüste mit einem krähenden Säugling anstellen?

      Der sterbenden Mutter hatten sie geschworen, das Kind zu retten, und so zogen sie dann, während Papa sich eine neue Bierflasche holte, weiter, einem Stern hinterher, wie die Heiligen Drei Könige, in der Hoffnung, in einer Stadt namens New Jerusalem eine Adoptivstation für das Baby zu finden, obwohl sie wußten, daß sie auf diesem Weg dem Sheriff in die Arme liefen.

      Der jüngste und am schwersten verletzte von den Bankräubern brach zusammen, hatte aber noch ’ne Masse zu wimmern, als er da so im Wüstensand lag. Daß der Knabe auf der Abschußliste stand, war jedem, der sich auch nur ein bißchen auskannte mit Western, klar wie Kloßbrühe mit dicker Tinte, und dennoch wollten und wollten die letzten Worte kein Ende nehmen. Immer noch eins und noch eins.

      »Mann, nun kratz doch endlich ab«, sagte ich, und Papa rief mich zur Ordnung. Ob ich noch ganz bei Groschen sei, solche Ausdrücke in den Mund zu nehmen? Aber ich fand das eben kitschig, und das sagte ich auch, und darauf erwiderte Papa nichts mehr. Ich war mir sicher, daß er das genauso kitschig gefunden hatte wie ich.

      John Wayne gefiel mir trotzdem, auch in diesem Western. Rauhe Schale, weicher Kern. Renate hatte mir mal gesteckt, daß John Wayne ein ulktrakonservativer Fiesling sei, aber wen interessierte denn die politische Einstellung von Schauspielern? Mir wär’s auch egal gewesen, wenn Raimund Harmstorf CDU gewählt hätte. Na ja, so ganz egal vielleicht nicht. Aber für welche amerikanische Partei John Wayne war, das ging mir doch am Arm vorbei. Vielleicht hätte Renate mal selbst in der Salzwüste von Arizona in so ’nem Planwagen liegen sollen, in anderen Umständen, mit höllischem Durst dazu und womöglich noch mit ’ner Schußverletzung. Wenn dann zufällig John Wayne des Wegs gekommen wäre, hätte Renate ja auch nicht erst über die Gleichberechtigung der Frau diskutiert, sondern sich gefreut, daß ihr da ein gestandenes Mannsbild zu Hilfe eilte und nicht der Juso-Chef von Idar-Oberstein, mit Hängeschultern und Kassengestell.

       Shall we gather at the river,

       where bright angel feet have trod …

      Der größte Cowboy von allen war und blieb John Wayne. Daran gab es nichts zu deuteln.

      Papa hatte eine Anzeige aufgegeben, daß er einen alten Victoriamotor suche, und jemand aus Hebelermeer rief an. Der besaß so ein Ding. Hebelermeer, das war irgendwo bei Twist, am Arsch der Welt. Mama und Papa fuhren hin, und als sie wiederkamen, trug Papa den betagten Motor in die Werkstatt, und Mama sagte, daß Hebelermeer in einer wahrlich gruseligen Gegend liege. Da sei der Hund verfroren.

      Schweinsbrutal ging es in einem Schwarzweißfilm zu, der auf einer Pflanzung in Hinterindien spielte. Da wurde gleich zu Anfang ein Mann von einer Frau mit sechs Kugeln durchsiebt. Die Frau behauptete, der Mann habe sie vergewaltigen wollen, aber wie sich herausstellte, war er ihr Geliebter gewesen, und sie hatte ihn aus Eifersucht umgeballert, und am Ende wurde sie von dessen Witwe abgestochen.

      Die Hauptdarstellerin hatte ziemliche Glubschaugen. Bette Davis. Nicht gerade ’ne Schönheit.