Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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durch die Rechnung gemacht, denn wir mußten erst zur Freusburg hochlatschen, gut anderthalb Stunden lang in völliger Dunkelheit! Zum Glück hatte ich meine Taschenlampe schon ausgepackt. So um halb acht erreichten wir die Freusburg. Wir hatten gedacht, es würde da Geheimgänge und Zinnen und Türme geben, aber wir Jungs wurden in einem Nebengebäude untergebracht, das beim besten Willen nichts mit einer Burg zu tun hatte. Die Mädchen wohnten in der eigentlichen Burg, doch bei Tageslicht entpuppte sich auch diese Burg als keine Burg. Sie sah von außen, wenn man viel Phantasie aufbrachte, einer Burg etwas ähnlich. Das war aber auch alles.

       Dann kam der Befehl zum Abendessenfassen. Mit hängender Zunge rasten wir in den »Burghof«, der ungefähr 200 m von unserem Gebäude entfernt war, und von da in den Speisesaal. Und was war gedeckt? Überhaupt nichts! Wir mußten uns Tassen holen, und dann kriegten wir Tee. Sonst nix.

       Durch das Fenster unserer Schlafkammer drang der Geruch einer wohlgefüllten Jauchegrube herein, und die Bettgestelle wiesen an Kopf- und Fußende rasiermesserscharfe Verstrebungen auf.

       Der nächste Tag begann um 6 Uhr. Frühstück gab es erst zwei Stunden später. Das Wasser im Waschraum war bitterkalt und der Boden mit Sandkörnern bedeckt, daß es nur so knirschte. Frühstück gab es zwar reichlich, doch es fiel für mich wegen meines verfressenen Tischnachbarn etwas dürftig aus.

       Der Tag wurde mit Unterricht, Minigolf und Spielchen ausgefüllt. Es war auch ein heiteres Spiel mit Sätzebilden dabei. Der Unterricht endete um elf, und bis zum Mittagessen um zwölf hatten wir Freizeit, die wir mit Herumstehen vertaten. Ringsum war ein riesiger, toller Wald, der größer aussah als der bei uns rund um den Fernsehturm, aber für eine Stunde? Da wäre man gerade am Waldrand angekommen und hätte schon wieder umkehren müssen. Und als wir einmal fünf Stunden Freizeit hatten, da hat’s geregnet. Überhaupt war es ein Kreuz mit dem Wetter da oben im Siegerland. Dauernd Nebel, und morgens hatte man Eisfüße. Mir hat das Ganze nicht besonders gefallen. Es war zu langweilig, und alles, was ich da gemacht habe, hätte ich hier genausogut machen können, wenn nicht besser.

       Der nächste und der übernächste Tag unterschieden sich vom ersten nur im Grad der Langeweile, der sprunghaft anstieg.

       Der schönste Tag war der der Heimreise.

       Heute abend schlaf ich beim Holger. Warum? In meinem Bett schlängelten sich zwei Silberfischchen. Igittigitt!

      Und ich hätte trotzdem lieber mitgelitten auf der Freusburg, als allein in Meppen zu versauern.

      Zu Konfi sollten wir Obst mitbringen, zur Besinnung auf das Erntedankfest. Pastor Böker zählte auf, was Gott alles sprießen lasse: Äpfel, Birnen, Erdbeeren, Himbeeren und Johannisbeeren, aber auch Weizen, Gerste, Roggen, Hafer, Zuckerrüben und Weintrauben. Und obendrein den Augenschmaus des Blumenmeeres – Rosen, Anemonen, Tulpen, Lilien und Aurikel …

      Und Giersch und Quecke, hätte ich hinzufügen können, aber ich sagte nichts, weil ich mich an eine Stelle in der Bibel erinnerte, wo es hieß, daß Gott, unser Herr, ein eifernder Gott sei, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied. Mit dem lieben Gott war nicht zu spaßen. Er übertrieb’s allerdings ein bißchen, wie ich fand, mit seinem unersättlichen Verlangen nach Dankbarkeit. Es hatte ja kein Mensch darum gebeten, von Gott erschaffen zu werden. Man war gar nicht gefragt worden, ob man existieren wollte, und auf einmal lebte man und sollte auch noch dankbar dafür sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit, selbst als Blinder oder Krüppel oder Leprakranker. Oder meinetwegen auch als armes Würstchen, das dazu verdammt war, die binomischen Formeln zu pauken. Wo blieb denn da die Logik?

      Im neuen Stern prangten Farbaufnahmen nackter Negerinnen vom Stamm der Nuba im Sudan, mit eingeölten, glänzenden Brüsten und Schenkeln und Arschbacken. Man konnte sehen, wie die Mädchen einen Fruchtbarkeitstanz aufführten, vor den jungen Männern ihres Stamms, die solange reglos dabeisitzen und zu Boden blicken mußten.

       Wenn eine der Schönen sich entschieden hat, schwingt sie ein Bein über den Kopf des Auserwählten. Es kann passieren, daß ein Mann während eines Fests gleich ein Dutzend solcher Liebeserklärungen bekommt.

      So gut hatten es die Männer bei den Nuba aber nicht immer. Sie mußten auch Leoparden jagen und unter sengender Sonne rituelle Messerkämpfe ausfechten. Den Oberschenkel eines nackten Nubamädchens hätte ich ja auch wohl gern auf meiner Schulter liegen haben mögen, doch die Messerstechereien wären nichts für mich gewesen. Sich den Bauch aufschlitzen lassen oder das Gesicht? Oholefo neinheinlefein!

      So wie die Burschenschaftler hier, die sich in sogenannten schlagenden Verbindungen beim Fechten ihre »Schmisse« eingefangen hatten und danach ein Leben lang mit vernarbter Fresse rumliefen. Der Arbeitgeberverbandspräsident Hanns-Martin Schleyer war so einer. Den hatte ich mal in den Nachrichten gesehen mit seiner »Mensur«. Der häßliche Deutsche, wie er im Buche stand.

      In meinem Antwortbrief teilte ich Michael mit, daß in Meppen der Glückspilz-Martin-Sender gegründet worden sei und seine Arbeit an der Verbreitung meines Ruhms in aller Welt aufgenommen habe.

      Mama zankte sich mit Papa, weil er den VW noch immer nicht wieder fahrtüchtig gemacht hatte. Das Ende vom Lied war, daß Papa brüllte und Mama weinte. Das abschließende Türengeknalle kannte ich schon vom Mallendarer Berg zur Genüge.

      Warum hatten die eigentlich geheiratet, wenn sie sich pausenlos in den Haaren lagen? Ein Liebespaar hätte sich anders benommen. Bei uns war es bereits das höchste der Gefühle, wenn zwischen Mama und Papa Waffenstillstand herrschte.

      Ob das in anderen Familien auch so vor sich ging?

      Von Bayern München kriegte ich das Poster zurück, mit Autogrammen von Sepp Maier, Kaiser Franz, Gerd Müller und fast allen anderen Spielern bis auf Bulle Roth und Rainer Zobel. Vielleicht hatten die gerade geduscht, als ein Vereinsmeier mit meinem Poster in der Kabine herumgelaufen war.

      In einem Western räumte Errol Flynn als Marshal von Dodge City mit einer Banditenbande auf, die nicht einmal davor zurückschrak, Kinder über den Haufen zu schießen. Als im Saloon eine Riesenkeilerei ausbrach, ließ Mama einen Stoßseufzer los und sagte, von diesen Wildwestfilmen sei doch wirklich einer primitiver als der andere. »Nix als Raufereien und Geballer! Und mit so was soll man nun seinen Feierabend verquansen!«

      Ich wollte schon protestieren, weil ich dachte, sie würde umschalten, doch sie ging raus und ward nicht mehr gesehen.

      Das Spitzenduell zwischen Gladbach und Braunschweig endete null zu null. Die Bayern hatten in Kaiserslautern verloren, aber der HSV hatte Frankfurt mit 4:2 geschlagen und war an Gladbach vorbei auf Platz 2 geklettert.

      Am Samstagabend kam der beste Krimi, den ich je gesehen hatte, mit James Cagney als Gangster, der in seiner Jugend einmal beim Wegrennen vor der Polente zu langsam gewesen war und dann alle Knäste von innen kennengelernt hatte. Sein etwas fixerer Freund war Priester geworden und mühte sich redlich, die Jugendlichen von der Straße wegzukriegen, aber die himmelten den von James Cagney gespielten Gangster an. Als über den dann das Todesurteil verhängt worden war, bat ihn der Priester darum, vor der Hinrichtung um Gnade zu winseln und sich damit als Idol für die Jugend zu entwerten. Zuerst wollte er das nicht, aus Stolz, aber dann machte er es doch und war wie gewünscht am Kreischen und Jaulen, wie ein Feigling, als ihn die Henkersknechte auf dem elektrischen Stuhl anschnallten.

      Der Witz bestand darin, daß Jimmy Cagney seine Feigheit nur vorgetäuscht hatte, damit die Jugendlichen ihn für einen Waschlappen hielten. Aber was heißt Feigheit? Auf dem elektrischen Stuhl hätte ich mir auch ohne Schauspielerei in die Hose geschissen vor Angst, obwohl ich nicht viel zu verlieren gehabt hätte, wenn man’s genau bedachte. Auf dem Mallendarer Berg war’s schöner gewesen als in Meppen, im Wambachtal war’s schöner gewesen als in den Wäldern rings um Meppen, und selbst im Eichendorff-Gymnasium war es schöner gewesen als im Kreisgymnasium. Wiebke hatte hier schon längst ’ne neue Freundin, und Volker gurkte mit ’ner ganzen Clique rum. Und ich?

      In den Sommerferien mit Michael Gerlach an der Mosel zelten,