Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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kam angedackelt und untersuchte die Unfallstelle. Das kaputte Geschirr hatte Papa in einen Karton gepackt, damit später auch die Versicherungsmenschen die Scherben in Augenschein nehmen könnten. An was Papa alles dachte!

      In Konfi wurde darüber diskutiert, weshalb Gott das Böse dulde. Kriege, Sklaverei, Hepatitis, Kinderlähmung und die Unterdrückung der Schwarzen in Südafrika, das hätte Gott ja alles nicht zulassen müssen, wenn er allmächtig war. Oder wenn bei einem Flugzeugabsturz ein ungetauftes Baby draufging: Sollte das dafür büßen, daß Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, irgendwann in der Bronzezeit? Je genauer man nachdachte über den lieben Gott und die von ihm aufgestellten Regeln und Gebote, desto fragwürdiger kam einem der ganze Zinnober vor.

      »Gebt dem König, was des Königs ist, und Gott, was Gottes ist«, hatte Jesus gesagt, aber was war des Königs? Und was Gottes? Und sollte man einem höheren Wesen untertänig sein, das jedes Jahr Millionen afrikanischer Babys verhungern ließ?

       Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

       Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser …

      Bei meiner Konfirmation wollte ich nicht leer ausgehen, und ich blieb bei der Stange, aber der Käse von Pastor Böker war nicht dazu angetan, meinen Glauben zu befestigen. Das Leben und das Christentum, das waren zwei verschiedene Paar Schuhe.

      Volker hatte uns mit einer Ansichtskarte bestückt.

       Hallo, Ihr Zurückgebliebenen! Die Fahrt war hinnehmbar, wenn man von den eintausend Staus absieht. Das Bier schmeckt gut. Die Brötchen tun’s auch, und die Flöhe, Wanzen und ähnliches stören kaum. Es grüßt Euch Euer Volker!

      »Da hätte er sich ruhig mal was Längeres abbängen können«, sagte Mama und kehrte zurück zu dem stinkenden Weißkohlgericht, das sie am Herd in der Mache hatte.

      Hertha BSC – Borussia Mönchengladbach 3:0. Frag nicht nach Sonnenschein.

      In der ZDF-Serie Kung Fu wurde David Carradine alias Kwai Chang Caine von chinesischen Kopfgeldjägern gehetzt, nachdem er als Waisenkind im Shaolin-Kloster aufgewachsen war, als Lieblingsschüler eines blinden, aber superschlauen Lehrers, dessen Weisheiten einem leider schon bald auf den Zeiger gingen. Und dann noch das Karategefuchtel, mit Händen und Füßen …

      Percy Stuart hatte ich besser gefunden. Die Serie hätten sie mal wiederholen sollen.

      Auf Mamas Frage, wie es ihm in Wertheim gefallen habe, erwiderte Volker, daß er am Mainufer zur Inspektion fürchterlich baufälliger Fachwerkhäuser genötigt worden sei.

      Lachen mußte Mama über eine Karikatur im Spiegel. Da stand ein einsamer Pauker vor einer Riesenklasse von Schülern und sagte: »Guten Tag, ich bin die Lehrerschwemme! Seid ihr der Pillenknick?«

      In Geschi nahmen wir die Goldene Bulle durch, die Magna Charta und den Hundertjährigen Krieg. Fehdebriefe, Kronvasallen, Bogenschützen, Scheiterhaufen. Ein Gemetzel nach dem andern. Der Mongolensturm und dann der Fall Konstantinopels:

       Es war ein schrecklicher Anblick, jammervoll anzusehen, wie sie unzählige Gefangene wegführten, vornehme Damen, Jungfrauen und gottgeweihte Nonnen, und wie sie sie an den Haaren aus der Kirche herauszerrten, unter fürchterlichem Jammergeschrei, dazu das Weinen und Heulen der Kinder, die entweihten heiligen Orte – wer könnte all das Grauen beschreiben?

      Die Landkarten, die der Wolfert aufhängte, sahen immer buntscheckiger aus. Da hätten nicht einmal die Zeitgenossen durchgeblickt, flüsterte Ulla Kötter mir zu, die neben mir saß. Ganz am Anfang hatten wir witzige Zettelchen zwischen uns hin- und hergeschoben. »Du heißt Kötter, ich heiß Schlosser – wer uns brät, der will uns krosser!« Aber das hatte bald wieder aufgehört, weil die pummelige Ulla Kötter und ich füreinander nicht in Frage kamen.

      FC Coleraine – Eintracht Frankfurt 2:6. So war es recht. Daran würde sich hoffentlich auch Gladbach ein Beispiel nehmen.

      Papa diktierte Mama einen Brief ans Wehrbereichsgebührnisamt in die Maschine. »Anliegend … übersende ich Ihnen … die Ablichtung … eines sogenannten Beschulungsvertrages Komma … nach dem meine Tochter … für die Zeit vom ersten neunten neunzehnhundertfünfundsiebzig … bis zum einunddreißigsten dritten neunzehnhundertsechsundsiebzig … sich zur Ausbildung … in der Reiffensteiner Schule Komma … Landfrauenschule Wittgenstein Komma … befindet. Punkt. Absatz.«

      Mama tippte das in einem Irrsinnstempo, mit drei Durchschlägen. Früher war sie ja mal Sekretärin gewesen, bei Telefunken und beim NDR.

      »Nach Abschluß dieser Ausbildung«, sagte Papa, »beabsichtigt meine Tochter Komma … ein Studium aufzunehmen. Punkt. Da ich es … wegen der Numerus-Clausus-Bestimmungen … nicht in der Hand habe Komma … dafür bereits jetzt einen festen Starttermin angeben zu können Komma … muß ich … über den weiteren Fortgang der Ausbildung … Ihnen … zu einem späteren Termin … ergänzend Mitteilung machen Punkt, Absatz. Hochachtungsvoll, Ihr Hans Huckebein.«

      Dann regte Papa sich noch über das auf dem Mist verknöcherter Amtsschimmel gewachsene Wort »Beschulungsvertrag« auf.

      Ich flehte Mama darum an, den Boxkampf zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier kucken zu dürfen, nachts um Viertel nach drei, aber sie blieb eisern bei ihrem Nein: »Schulkinder gehören nachts ins Bett und nicht vor die Glotze. Basta.« Obwohl doch Herbstferien waren!

      Ich mußte es wohl oder übel dabei bewenden lassen, mir abends im Zweiten die Zusammenfassung anzusehen. Anfangs hatte Ali gepunktet, aber in der sechsten Runde einen Treffer von Frazier eingesteckt und sich trotzdem noch so gut geschlagen, daß Frazier mit einem zugeschwollenen Auge in die vierzehnte Runde gegangen war, und dann hatte der Schiedsrichter den Kampf abgebrochen, und Muhammad Ali war Sieger durch technischen K.o.

      An Joe Fraziers Stelle hätte ich Muhammad Ali gar nicht erst herausgefordert, so als hutzeliger Gnom gegen den Größten. Das war ja fast so, als ob die Schreiberlinge der Meppener Tagespost sich mit Goethe hätten messen wollen.

      In der Tagespost alias Tagespest, wie sie bei uns hieß, erschien jeden Tag auf der zweiten Seite ein Kasten mit Kurznachrichten, und die ersten ein, zwei Wörter waren fettgedruckt. Als Papa da einmal das fettgedruckte Wörtchen »Auch« erblickt hatte, war ihm der Kragen geplatzt: »Auch! Als ob das ’ne Überschrift wäre, der man irgendwas entnehmen könnte! Auch!« Den dafür verantwortlichen Redakteur, sagte Papa, solle man verprügeln.

      In den Ferien mußten wir »Das Fräulein von Scuderi« lesen, eine Erzählung über einen französischen Goldschmied, der über Leichen ging, um sich alle seine jemals verkauften Schmuckstücke wiederzubeschaffen, aber es dauerte, bis man dahintergestiegen war, und mir graute schon beim Lesen davor, die ganze Geschichte wochenlang in Deutsch durchkauen zu müssen.

      Wacker Innsbrucks Führungstreffer hatte Uli Stielike kurz vor dem Pausenpfiff das 1:1 entgegengesetzt, und in der zweiten Halbzeit war Jupp Heynckes zu großer Form aufgelaufen und hatte Wacker vier Tore reingeballert. Ratschbumm!

      Bayern München – Jeunesse Esch 3:1.

      Und es kam, was kommen mußte: Michael Gerlachs nächster Brief.

       Grüeziwohl!

       Hier meldet sich wieder der Dusslige Michael-Gerlach-Sender (DMGS) mit den neuesten Nachrichten. Wir bitten um Verständnis für die etwas verspäteten Mitteilungen, aber in der Jugendherberge in der Freusburg gab es leider keine Möglichkeit zum Schreiben. Tatsache, Holger und ich haben an der Konfirmandenfreizeit teilgenommen, da der Preis verbilligt wurde, um 50 %, man stelle sich vor!

       Zunächst zu den Koffern: Meiner war noch größer als Holgers, und wahrscheinlich reizte uns die Größe, so daß wir beide bis obenhin vollpackten. Mann, was wogen die! Und was haben wir uns geschämt, als die anderen auf dem Bahnhof alle nur so kleine Täschchen hatten!

       Als