Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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ich den Brief nochmal schreiben. Harald hat Exemplar Nr. 1 nämlich in die Finger bekommen und zerknüttelt. So’n Dreckskerl.

       Gestern war ich mit meiner Mutter im Wambachtal. Mann, da sieht’s ja jetzt stark aus! Alles überwuchert, die ganzen Wege, und an jedem Busch oder Baum hängt was Leckeres dran … dicke Brombeeren, saftige Äpfel und knusprige Nüsse … schade, daß Du das nicht sehen kannst. So ist das da noch nie gewesen. Selbst der Weg nach Simmern ist zu einem Schleichpfad geworden. Jetzt werde ich da wohl öfter runtergehen und schlemmen. Mjamm, mjamm. Das wird lecker! Und dann werde ich in die noch unerforschten Urwälder hinter Hillscheid vagabundieren und versuchen, neue Wege zu finden. Außerdem will Holger dauernd zum Fernsehturm, weil er den ja noch nie so aus der Nähe gesehen hat wie wir. Ach ja, das Leben ist schön … aber vorher muß ich noch abtrocknen und in Deutsch ’ne Inhaltsangabe verzapfen. Ob das Leben dann noch so schön sein wird?

       Heute früh hat Harald seinen Führerschein fürs Moped gemacht und fehlerlos bestanden. Das mit dem »fehlerlos« hat er zumindest gesagt. Jetzt darf er endlich auch mit polizeilichem Segen Unfälle bauen. Da macht das ja echt Spaß.

       Weißt Du, was ich in einem meiner alten Tagebücher gelesen habe? Wir beiden haben mal ’ne Wette abgeschlossen, wer von uns beiden mit 40 wohl reicher sein wird. Wie die ausgeht, weiß ich heute schon: Du gewinnst als zigarrenrauchender Bonze über einen heruntergekommenen Spieler oder so. Tja, das Leben ist hart.

       Ach ja, der lateinische Satz … der heißt auf gut Deutsch: Wir wissen doch alle, daß Du total bekloppt bist. (Du wolltest es ja wissen.)

       Tschöken dann.

       Mein (und nicht Dein) Michael Gerlachiwitschki – daß Du’s nur weißt!

      Wenn der geahnt hätte, wie oft ich seine Briefe las, dann hätte er mich für verrückt erklärt.

      Im Europapokal der Landesmeister schlidderte Gladbach denkbar knapp an einer katastrophalen Heimniederlage vorbei: Den Halbzeitstand von 0:1 verteidigte Wacker Innsbruck mit Zähnen und Klauen, bis Gladbach in der 83. Minute einen Foulelfmeter zugesprochen bekam, den Simonsen verwandelte. Uffhufflefuff!

      Im Rückspiel würde ein 0:0 nicht reichen, weil bei Punktegleichstand Auswärtstore doppelt zählten. Es mußte also mindestens ein 2:2 her. Oder ein Sieg.

      Andere hatten sich günstigere Voraussetzungen geschaffen. Nach dem 0:5 in der Partie Jeunesse Esch – Bayern München mußte das Rückspiel bloß noch pro forma ausgetragen werden, und im Europacup der Pokalsieger hatte sich Eintracht Frankfurt mit dem 5:1 gegen den FC Coleraine ein bequemes Polster besorgt.

      Zu meiner Erleichterung zeigte sich Gladbach am nächsten Bundesligaspieltag wieder in Hochform. Mehr als ein Ehrentreffer war für die Bayern nicht drin auf dem Bökelberg, obwohl bei denen mit Sepp Maier, Katsche Schwarzenbeck und Franz Beckenbauer drei Weltmeister mitspielten und bei Gladbach mit Berti Vogts und Rainer Bonhof nur zwei. Gladbach siegte hochverdient mit 4:1 und stand wieder an der Tabellenspitze.

      Mama und Papa wollten nach Jever, zum Ehemaligenball ihrer Schule, kamen aber erst viel zu spät los, weil Papa den Autoschlüssel verschlumelt hatte. Schubladen, Manteltaschen, Hosentaschen, Fensterbänke, Bücherregale, Küchenschränke, Kellerborde, jeder Winkel wurde hundertmal hektisch durchsucht, Treppe rauf, Treppe runter. So einen Aufruhr hatte die Welt noch nicht gesehen. Und wo steckte das Mistding? Im Zündschloß!

      Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben.

      »Stellt hier bloß keinen Unfug an«, sagte Mama noch. »Schließt die Haustür ab und macht die Jalousien runter! Und bleibt nicht alle auf bis in die Puppen!«

      Ja, ja, ja.

      Als die Alten endlich abgefahren waren, stürzte Volker sich ins Meppener Nachtleben, und Wiebke kuckte Rudi Carrell. Ich ließ mir Badewasser einlaufen und las in der Wanne zum zwanzigsten oder dreißigsten Mal das beste Buch von Enid Blyton, in dem Barny, Robert, Stubs und Diana den Verbrechern in der verbotenen Höhle die Suppe versalzen.

      Wenn das Wasser zu kalt wurde, ließ ich heißes nachlaufen. Zweieinhalb Stunden lang baden, das hätte Mama mir nicht erlaubt, aber nun war ich ja einmal mein eigener Herr.

      Im Zweiten fing um kurz nach elf ein Film über eine Gaunerbande an, die plante, den Safe einer Spielbank in Monte Carlo zu knacken. Ein paar von den Dieben mußten außen über einen Sims balancieren, in schwindelnder Höhe, was ich spannend fand, aber Wiebke pennte dabei ein. Als der Film aus war und ich sie weckte und ihr riet, ins Bett zu gehen, reagierte sie so quakig, daß ich sie auf dem Sofa liegenließ. Wenn sie da überwintern wollte – bitte sehr. Ich hatte meine Pflicht und Schuldigkeit getan.

      Vom Ehemaligenball war Mama enttäuscht. Kein einziger Lehrer habe sich da blicken lassen und kaum jemand Gleichaltriges, und so seien sie um Mitternacht unter Tante Gretes Regie zum Seglerball ins Dorfgemeinschaftshaus Horumersiel umgezogen, wo sie lauter alte Bekannte getroffen hätten. In Jever seien sie erst um halb fünf Uhr morgens wieder gewesen.

      Soso. Die halbe Nacht durchfeiern, aber unsereinen zum frühen Schlafengehen ermahnen! Müßiggang ist aller Laster Anfang. Oder wie war das noch gleich?

      Early to bed and early to rise.

      Am Montagabend fuhr Mama zur Schulelternversammlung, um sich einmal lautstark über die mangelhafte Unterrichtsversorgung am Kreisgymnasium zu beschweren.

      Der helle Wahnsinn – auf ’ner Versammlung mehr Schulstunden zu fordern, und das auch noch zu einer Zeit, in der die Otto-Show lief. Wo die doch sowieso nur alle Jubeljahre kam!

      Otto Waalkes spielte Robin Hood, den Rächer der Enterbten und den Beschützer der Witwen und Waisen, der vergessen hatte, was er war. Der Grützkopf der Waisenkinder? Der Becher ohne Henkel? Als Kommissar Kringel telefonierte er mit einem Polizisten, der einen Mord melden wollte, und schlug vor, alle Nichtmörder verhaften zu lassen. »Dann ist der, der frei rumläuft, der Mörder!« Und er veräppelte Michael Holms Schnulze »Tränen lügen nicht« mit dem Liedchen »Dänen lügen nicht«. »Du hast gedacht, du gehörst zu denen, denen Dänen alles durchgehen lassen. Nein, nein, mein Freund …« Das beste war der Gag mit den beiden Gerippen, die nachts auf einem Friedhof aus dem Grab klettern und auf Motorräder steigen wollen. Das eine Gerippe packt seinen Grabstein dazu. »Was soll das?« fragt das andere Gerippe und bekommt zur Antwort: »Ja, glaubst du, ich fahr ohne Papiere?«

      Volker ging schon wieder auf Klassenfahrt, nach Wertheim am Main diesmal, worauf er aber nur mittelscharf war. Da sei, wie er sich beim Frühstück ausdrückte, ohne jeden Zweifel der Hund begraben.

      »Also so was von Undankbarkeit!« rief Mama und haute mit der flachen Hand auf den Tisch. »Freu dich doch, daß du mal rauskommst aus Meppen und was siehst von der Welt! Statt hier den Blasierten zu spielen! Als ich in deinem zarten Alter gewesen bin, hätte ich mich schon für einen Tagesausflug an die Leine glücklich geschätzt! Und du darfst dich am Mainufer ergehen und rümpfst noch die Nase darüber! Ich gehöre ja nun wirklich nicht zu den Leuten, die behaupten, daß früher alles besser gewesen wäre, aber nach dem Krieg hätten wir jedenfalls keine Jeremiaden vom Stapel gelassen, wenn uns jemand zu ’ner Reise an den Main eingeladen hätte!« Die Jugend von heute wisse gar nicht, wie gut sie’s habe.

      Papa warf ein, daß damals im Rhein-Main-Gebiet alles zerbombt gewesen sei, und Volker schwieg stille.

      Der Tag, an dem der Küchenhängeschrank von der Wand fiel, hatte angefangen wie jeder andere. Mama war vormittags einkaufen gegangen und hatte danach die Bescherung entdeckt. »Ich geh in die Küche rein und denke an nichts Schlimmes, und dann sieht’s da aus wie Sodom und Gomorrha!«

      Der Schrank hatte sich aus der Halterung gelöst, beim Abstürzen die Wandlampe zerdeppert, die offenstehende Spülmaschinenklappe beschädigt und alles Eßgeschirr auf den Kachelfußboden ergossen. Heilgeblieben war nur eine von den zerbrechlichen blauen Teetassen. Ausgerechnet!

      Papa bezifferte den Schaden auf fünfhundert Mark. Ein Schweinegeld, das er sich von der