Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Das war überhaupt ein merkwürdiger Beruf, Tag und Nacht Schranken runter- und wieder raufzukurbeln. Und was machte der Wärter in seinem Türmchen, wenn er nicht kurbeln mußte? In der Nase bohren und Comic-Strips lesen? Oder wedelte der sich da oben dann womöglich heimlich einen von der Palme?

      In Konfi blubberte Pastor Böker davon, daß Jesus Christus, Gottes Sohn, uns einladen wolle in seine Nähe. Die Liebe Gottes gegen uns, sage die Bibel, sei daran erschienen, daß Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt habe in die Welt, auf daß wir leben sollten durch ihn.

      Eingeborener Sohn? Das hörte sich so an, als ob Jesus ein Eingeborener gewesen wäre, mit Knochen im Toupet, Bananengürtel und Missionarskochtopf, aber ich hütete mich, den Böker zu fragen, wie das zu verstehen sei. Der redete auch so schon genug.

      Ausnahmsweise durfte die C-Jugend auf dem gepflegten Rasenplatz trainieren, wo sonst die Oberligaspiele stiegen. Mannomann, das war aber was anderes als das Gestocher auf Schlacke! Wie weich und einladend sich das anfühlte, auf Gras, und wie gut das roch! Und dann noch die Tribüne an der Seite! Da konnte man sich fast schon einbilden, wie es wäre, bei einer WM vor ausverkauftem Haus zu einem Jahrhundertspiel aufzulaufen, auch wenn keine Zuschauer da waren und das Hindenburgstadion im Vergleich mit dem Aztekenstadion zugegebenermaßen ziemlich schlapp ausgesehen hätte.

      Mit meinem Ball trainierte ich auch bei uns im Garten, wo ich aber darauf achten mußte, daß die Gewächse keinen verplättet kriegten. Ich übte Doppelpässe mit der Hausmauer und dribbelte die Birken aus, und nur wenn’s nieselte oder gewitterte, hörte der Spaß für mich auf. Im Unterschied zu Fritz Walter konnte ich das sogenannte Fritz-Walter-Wetter nicht ab. Da igelte ich mich lieber mit einem fesselnden Schmöker in meinem Zimmer ein, selbst wenn ich den schon auswendig kannte. Die Bücher von Enid Blyton und Astrid Lindgren konnte man immer wieder lesen. Wie Barny, Robert, Stubs und Diana das Rätsel um die verbotene Höhle lösen oder wie Kalle Blomquist dem diebischen Onkel Einar auf die Schliche kommt. Da mochte draußen der Regen pesern, so viel er wollte.

      Wenn Tante Dagmars altes Rad mein eigen wäre, wollte ich damit nach Jever fahren. In den Herbstferien vielleicht. Die Entfernung zwischen Meppen und Jever, die ich im Shell-Atlas ausgemessen hatte, betrug rund 120 Kilometer, und in Emden gab es eine Jugendherberge, in der ich übernachten konnte, aber Mama sagte, daß ich eine Schraube locker hätte: »Daraus wird nichts, mein Lieber, und wenn du dich auf den Kopp stellst!«

      Dabei war Mama als Jugendliche diverse Male mit dem Rad von Jever nach Oldenburg gefahren, um da ins Theater gehen zu können. Sogar im Krieg! Und ich durfte nicht einmal im Frieden ’ne Radtour nach Jever unternehmen!

      Vor Wut wäre ich fast geplatzt, so wie dieser eine Schlagersänger, der für seine Angebetete Blumen gekauft hatte, von seinem letzten Geld, und dann sitzengelassen worden war:

       Und weil du nicht bist gekommen,

       hab ich sie vor Wut genommen,

       ihre Köpfe abgerissen

       und sie in den Fluß geschmissen …

      Als Erziehungsberechtigte glaubte Mama offenbar, sie dürfe sich jede Freiheit herausnehmen. Auch die, ihren eigenen Kindern zu verbieten, was sie selbst als Heranwachsende gedurft hatte.

      Gegen Frankfurt spielte Gladbach nur 1:1 und fiel auf den dritten Tabellenplatz zurück, hinter Braunschweig und Bayern. Aber denen würden die Fohlen schon zeigen, was ’ne Harke ist, in einer Woche beim Schlagerspiel auf dem Bökelberg.

      Renate kam nach Meppen, um ihren Flokati abzuholen. Der Fußboden in ihrem Zimmer in Birkelbach sei eisig.

      Was sie über ihre Arbeit erzählte, klang schauderbar. Die Maiden würden da zu verschiedenen Ämtern eingeteilt: Fußbodenamt, Anrichteamt, Ordnungsamt, Wäscheamt, Blumenamt und so weiter, und dann gäb’s noch Unterricht in Wirtschaftslehre, Ernährungslehre, Kochen, Haustechnik, Hygiene, Psychologie, Nadelarbeit, Gartenarbeit, Wäsche und Sport. Gekocht werde immer für hundert Personen. Der schwarze Tee schmecke nach nichts, und abends kriegten sie bloß scheußlichen Hagebuttentee. Zweimal die Woche hätten sie abends Ausgang bis zehn, aber an den anderen Tagen dürften sie nicht weg, nicht mal zum Telefonieren.

      Einen Bettvorleger aus Heidschnuckenwolle würden sie jetzt weben. Dafür hätten sie die mit Dreck und Kletten verfilzte Wolle aber erst waschen und trocknen und hinterher noch langwierig von Hand mit Bürsten reinigen müssen. »Den Gestank von dem Wollfett hab ich jetzt noch in der Nase«, sagte Renate.

      Übrigens habe sie sich inzwischen schlaugemacht, wofür das blöde Wort »Maid« stehe, nämlich für Mut, Ausdauer, Intelligenz und Demut. Das sei doch nun wirklich Kiki.

      Nächstes Jahr, wenn sie in Birkelbach fertig wäre, wollte sie sich zur Tontechnikerin ausbilden lassen. Mama kannte irgendwen, der bereit war, Renate beim WDR in Köln eine Stelle als Praktikantin zu vermitteln. Danach würde sie die Schule für Rundfunktechnik in Nürnberg besuchen und anschließend ihre Moneten beim WDR verdienen, aber als Papa davon hörte, belferte er: »Tontechnikerin! Du hast ’n anständiges Abitur, und dann studierst du gefälligst auch!«

      In der C-Jugend besaß ich nun zwar einen Stammplatz, aber bloß als linker Verteidiger und nicht als Stürmer oder Mittelfeldregisseur. Die Mittellinie überquerte ich nur, wenn das auch der Spieler tat, den ich zu decken hatte. Für den Anfang der Karriere eines Torjägers war das eher untypisch. Wenn es dabei blieb, würde ich später als Torschütze in der Nationalmannschaft äußerstenfalls mit Berti Vogts konkurrieren können. Der hatte in seinen 65 Länderspielen noch kein einziges Tor geschossen.

      Andererseits war ich meistens schon froh, wenn ich einen Zweikampf siegreich bestanden und den Ball ins Aus oder nach vorne geholzt hatte. Es machte mich nervös, wenn ich angespielt wurde, um den Angriff aufzubauen, und ich gab den Ball am liebsten schleunigst wieder ab und konzentrierte mich auf meine Hauptaufgabe, die Manndeckung.

      Uli Möller fand anscheinend, daß ich das am besten konnte, aber noch war ja nicht aller Tage Abend.

      Renate hatte eine Pizza gebacken, belegt mit Käse und Tomaten und derartig scharf gewürzt, daß einem die Schweißperlen nur so runterliefen.

       Miau! Mio! Miau! Mio!

       zu Hilf! das Kind brennt lichterloh!

      Ich rannte in die Küche, um mir Leitungswasser in den lodernden Schlund zu gießen.

      »Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte Renate, als ich wiederkam. Sie habe ganz bewußt mit Gewürzen gegeizt, damit hier niemand einen Rappel kriege. »Olaf und ich gönnen uns die fünffache Menge!«

      Wenn das wahr war, hatten Renate und Olaf ’ne Meise. Oder Gaumen aus Elefantenleder.

      Nach Birkelbach nahm Renate auch ihr altes Schmetterlingsposter mit.

      Um 21 Uhr mußte sie am Sonntagabend wieder dort sein.

      In dem Film »Toll trieben es die alten Römer« lief ein furioses Wagenrennen, als im Hausflur Papas Gebell erscholl: »Martin! Das Klapprad steht noch draußen!«

      So jagte er einen gern hoch, obwohl er selbst nicht dafür berühmt war, daß er zur flotten Truppe gehörte. Mama drängelte ihn schon seit langem, den VW zu reparieren, damit sie nicht mehr alle Einkäufe zu Fuß erledigen mußte, aber irgendwie kam Papa nie dazu, die Sache ernsthaft in Angriff zu nehmen. Zum Glück gab es ganz in der Nähe einen Supermarkt, Comet, schräg gegenüber vom Hindenburgstadion.

      Ich trug das Klapprad in die müffelnde Waschküche, und bei dieser Gelegenheit nahm Wiebke mir meinen Sofasitzplatz weg. Als ich sie davon vertreiben wollte, mischte Mama sich ein: »Müßt ihr euch denn immer und immer kabbeln? Jetzt ist Sense! Raus hier! Ab nach oben, alle beide!«

      Mit einem kleinen Bruder hätte ich mich unter Garantie besser verstanden als mit Wiebke, der dummen Sau.

      Seit wir in Meppen wohnten, lief so viel schief, daß ich ohne die Briefe von Michael Gerlach nicht mehr