Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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war, wucherte trotzdem alles im Nu wieder zu. Meine Beine hatten Schrammen, mein rechter Ringfingernagel war umgeglippt, und während ich da auf allen vieren herumkroch, kamen zwei Weiber aus meiner Klasse angeradelt, Tanja Gralfs und Anneliese Junkers. Denen kehrte ich den verlängerten Rücken zu, bis sie vorbeigefahren waren.

      Wenn man’s genau bedachte, war eigentlich alles in Meppen zum Kotzen, bis auf den Fußballverein.

      Anders als die Gladbacher, die beim 1:1 gegen Bochum ein schwaches Bild abgegeben hatten, spielten wir gegen die C-Jugend des SV Eltern groß auf und gewannen mit 4:1. Für das Gegentor konnte ich nichts. Das war bei einem Handelfmeter gefallen, den unser Vorstopper Andi verursacht hatte. Bei dem mußte man auf alles gefaßt sein. Der brachte es fertig, fünf Leute auszutricksen und seinen Sturmlauf mit einem zentimetergenauen Steilpaß abzuschließen, aber er leistete sich auch Fehlpässe im eigenen Fünfer, wie ein blutiger Anfänger.

      Nach dem Spiel erzählte Andi, daß er die Schule satt habe und im nächsten Sommer abgehen werde. Dabei war der gerade mal in der achten Klasse.

      »Und was willste dann machen?« fragte Uli Möller. »Ohne mittlere Reife? Betteln gehen? Oder deine Oma auf ’n Strich schicken?«

      Darüber hatte Andi noch nicht nachgedacht.

      »Ja, du Schlauberger, da kuckste!« rief Uli Möller und schüttelte den Kopf. »Echt, manchmal frag ich mich, wo ich hier bin, beim SV Meppen oder im Irrenhaus!«

      Da gebe es keinen Unterschied, sagte Didi.

      Der Gedanke, daß Andi einen an der Waffel hatte, war mir schon gekommen, als er im Training einmal seine vielen Strümpfe hochgehalten und verkündet hatte, daß er immer mehrere Paare anziehe, entweder drei oder fünf oder sieben oder maximal neun. Es müsse immer eine ungerade Zahl sein; sonst würde er ein Eigentor schießen. Andi war abergläubisch.

      Man hätte mal selbst eine Flaschenpost loslassen müssen. Dem ehrlichen Finder winke eine Belohnung von Martin Schlosser, wohnhaft da und da, tippte ich auf ein Blatt Schreibmaschinenpapier und stopfte es zusammengerollt in eine leere Mineralwasserflasche, die ich fest zuschraubte. Dann fuhr ich zur Hasebrücke hinterm Kreisgymnasium, warf die Buddel ins Wasser und konnte zusehen, wie sie langsam aufs Ufergestrüpp zuschaukelte und sich darin verhedderte.

      An einer total unzugänglichen Stelle natürlich.

      Und ich hatte gehofft, in ’nem halben Jahr oder so vielleicht einen Schrieb aus New York zu kriegen. Oder aus Hongkong oder Rio de Janeiro. Denkste Piepen! Nicht mal schlappe zwanzig Meter weit war meine Flaschenpost auf ihrer Weltreise gekommen.

      Am Montag merkte ich erst in der großen Pause, daß ich vergessen hatte, mir die Fahrradklammer vom Hosenbein abzumachen. Au Mann. Das sah so panne aus! Und alle hatten es gesehen, und keiner hatte was gesagt!

      Mir blieb doch wirklich nichts erspart.

      Nachmittags nahmen zwei Fritzen vom Bundesvermögensamt und vom Staatshochbauamt unser Haus unter die Lupe, und Papa, der sich dafür freigenommen hatte, zeigte denen jede Macke, die es hatte. In mein Zimmer kiekte die Delegation nur einmal kurz rein, als ich an den Hausaufgaben saß. Railroading in the United States.

       What was the first American train pulled by?

       Which of the two countries pioneered railroading – Britain or the United States? Give reasons.

      Renate rief aufgeregt an und erzählte, Olaf habe ihr ein Telegramm geschickt, daß er nach Kanada fliegen müsse, für mehr als drei Wochen, zu irgendeinem Manöver in Camp Shilo oder so ähnlich.

      Na und? Der würde schon wiederkommen. Renate übertrieb’s gelegentlich mit ihrer Affenliebe, fand ich.

      Dem neuesten Brief von Michael lag wieder mal einer von Holger bei. Die Anrede mußte man rückwärts lesen.

       Ollah Nitram!

       Du scheinst ja, im Gegensatz zu uns, ziemlich viel zu erleben.

      Ob das ironisch gemeint war?

       Leider passiert bei uns rein gar nichts. Und wer ist daran schuld? Michael Gerlach. Seit Du weg bist, sitzt er nur blöd auf seinem Arsch und tut gar nüscht. Von wegen im Wambachtal sind zu viele Mücken oder es ist zu heiß. Er hat ganz einfach keine Lust. In der Schule und im Bus hockt er sieben Stunden lang rum, und wenn er nach Hause kommt, heult er: »Huuuäääh … hab keine Lust, huuuäääh.« Was soll unsereins da schon ausrichten. Allein macht’s eben keinen Spaß. Na ja, manchmal rafft er sich auf, aber dann muß man ihm ’ne Gegenleistung bringen, z.B. Pommes frites oder Kaugummi. Oder auch Schläge kassieren.

       Jaja, es ist schon schlimm mit ihm! Hoffentlich brennt Euer Haus ab, und Ihr kommt zurück.

       Tschüß – Holger

      In seinem eigenen Brief erzählte Michael von ganz was anderem.

       Juchhee!

       Gerade hat mich Dein jüngstes Gekritzel erreicht. Und so reiße ich mich nun zusammen und schreibe Dir einen meiner berüchtigten Von-der-Langeweile-erzähl-Briefen.

       Bei uns herrscht herrliches Wetter. Glühendheiß und stickig. Mir wär’s lieber, wenn Schnee läge. Dicker, fester, schöner Schnee. Und eisig kalt müßte es sein. Und Schlittenfahren müßte man können!

       In der letzten Zeit habe ich versucht, mein Kett-Car wieder in Schwung zu bringen, damit ich wenigstens irgendetwas zu tun hatte, aber ich hab’s nicht geschafft.

       Für etwas Abwechslung hat unser Wellensittich Jakob gesorgt. In der letzten Woche ist er dreimal abgehauen. Auch gestern. Zum Glück haben wir ihn jedesmal wieder einfangen können. Irgendwann wird er für immer abhauen. Er kann schon fünf Meter weit fliegen.

       Aber was der Holger Dir schreibt, stimmt alles gar nicht. Buuhää! Das stimmt nicht, stimmt nicht, stimmt ja alles gar nicht!

       Wovon soll ich denn jetzt noch schreiben? Daß Holger sich in einen Werwolf verwandelt hat? Oder von dem Vulkanausbruch in unserer Nähe? Solche Lappalien werden Dich wohl kaum interessieren.

       Im Wambachtal reißen sie jetzt den ganzen Boden auf und verlegen Rohre. Schöne Schweinerei! Und im »Heimat-Echo« schreiben sie: »Der Bürgermeister und die Stadträte besprachen gestern die Kultivierung des Wambachtals.« Ich würde wetten, daß die das im Suff besprochen haben, oder sie waren von oben bis unten mit Heroin vollgepumpt.

       So, ich mach jetzt Schluß. Wie der lateinische Satz ging, hab ich vergessen.

      Ich wünschte mir ein Kaleidoskop, und Papa, sparsam wie immer, bastelte selber eins, aus Spiegelchen, Kleister, Klebeband, Konfetti und ’ner Pappröhre, aber wenn man da reinkuckte, sah man nicht viel, weil es zu dunkel war innendrin.

      In Mathe hagelte es Funktionsgraphen, Koordinatenpaare, Vereinigungsmengen und Teilmengenbeziehungen zwischen Erfüllungsmengen.

       Zeichne das Pfeildiagramm der Relation. Setze dazu für x und für y Zahlen aus der Menge A = { –2, –1, 0, 1, 2} ein. Prüfe: Ist die Relation reflexiv, ist sie symmetrisch, ist sie transitiv?

      Ein einziger Pillefax war das. Ein mieser, hirnverbrannter, verstunkener Mist, den sich irgendwelche Sadisten aus den Fingern gesogen hatten, um harmlose kleine Untertertianer zu schikanieren. Transitive Relation, wenn ich das schon hörte! Überflüssig wie ein Kropf, der ganze Krempel.

      Oder etwa nicht? Schon mal ’ner transitiven Relation begegnet, in der freien Wildbahn, außerhalb der Schule? In echt?

      Als ich nachhausefahren wollte, waren die Bahnschranken unten. Na klar. Wieviel Lebenszeit ich wohl inzwischen schon vor diesen Schranken verplempert hatte?

      Eine andere gute Frage war, wieso die Schranken regelmäßig eine halbe Ewigkeit, bevor der Zug kam, runtergingen. Hätten,