Telefon … Mann, Mann, Mann, was war doch Mathe für ein geisteskrankes, bekotztes Wildschweingefurze. Zu nichts, aber auch zu gar nichts nutze. Und wenn’s außer Mathepauker wirklich irgendwo auf der Welt noch einen Beruf gab, für den man sich mit Termen und Rauten und Gleichheitsketten auskennen mußte, dann würde ich den nie im Leben ergreifen.
Als Mama wieder da war, erzählte sie, daß die Wohnung in der Mühlenstraße verwaist gewesen sei gestern abend, aber dann hätten sie Oma und Opa glücklich auf dem Altstadtfest angetroffen, auf dem Kirchplatz, im dicksten Gewühle.
Um halb sieben rief Tante Dagmar an und sagte, daß ich ihr altes Fahrrad haben könne. Das werde sie mir bei ihrem nächsten Besuch mitbringen, aber da müsse ich mich noch etwas in Geduld üben. »Ich fahr erst mal nach Abano Terme und aale mich da im Fangoschlamm.«
Was daran wohl so schön war, sich im Schlamm zu winden? Aber Hauptsache, daß ich bald ein vernünftiges Fahrrad kriegte, für das ich mich nicht schämen mußte, wenn ich damit auf dem Schulhof eintraf.
Zu ihrem 46. Geburtstag schenkte ich Mama einen Gutschein für dreimal Staubsaugen im Wohnzimmer.
Am Dienstag stellte sich heraus, daß der Religionsunterricht nur für Katholiken war, und ich durfte nachhause fahren. Nun hatte ich noch zwei Stunden weniger Schule und zusammengerechnet sogar vier weniger als Wiebke. Mama kam das spanisch vor.
Nachdem ich ihr oft genug in den Ohren gelegen hatte, rief sie beim SV Meppen an und fragte nach den Trainingszeiten für Jugendspieler. Die Jugend, hieß es, trainiere dienstags und donnerstags am Nachmittag, und ich stieg in meine Fußballschuhe. Die Leutchen würden sich noch wundern beim SV Meppen: Ich würde als deren erster Nationalspieler in die Fußballgeschichte eingehen, und wenn alles nach Plan lief, würde ich den Verein von der Amateurliga in die Bundesliga führen und dann irgendwann zu Borussia Mönchengladbach wechseln, meinem Traumverein, mit dem ich zehnmal nacheinander Deutscher Meister und auch zehnmal Sieger im Europapokal der Landesmeister werden wollte. Im Verbund mit Kalle Del’Haye, Rainer Bonhof und Jupp Heynckes würde ich auch die Nationalmannschaft neuen Erfolgen entgegenführen, wenn ich mich beim SV Meppen bewährt hatte.
»Das ist genau das richtige für deine überschüssigen Kräfte«, sagte Mama, als sie mich dem Trainer vorgestellt hatte. Uli Möller hieß der. Er ließ sich von mir ein paar Schüsse zeigen und teilte mich dann der C-Jugend zu.
Zu meinem Entsetzen zitierte mich der Schlüter in Franz nach vorne, und ich sollte so tun, als ob ich ein Kunde auf einem französischen Wochenmarkt wäre und dem Schlüter was abkaufen wollte. Pommes de terre et légumes. Des petits pois, des carottes et des tomates. Als ich das vollbracht hatte, im Schweiße meines Angesichts, sollte ich auch noch Wurst kaufen. Wie hieß noch mal das Wort für Wurst? Fleisch war viande und Hackfleisch viande hachée. Und Wurst? Saucisse?
Saucisse war richtig. Die unsichtbare Wurst stopfte ich mir in die Hosentasche, worüber die gesamte Klasse lachte.
»Au revoir, Monsieur«, sagte der Schlüter, und ich durfte wieder Platz nehmen.
Puh.
In Sport demonstrierte ein Schüler namens Hermann Gerdes seine Fitness. Der schaffte es durch rohe Muskelkraft, an zwei nebeneinander baumelnden Tauen bis zur Turnhallendecke zu klettern, mit der einen Pranke am linken und der anderen am rechten Tau.
In Geschi war die deutsche Hanse dran. Wie sich im 14. Jahrhundert die Hansestädte verbündet und die Schlupfwinkel der Seeräuber ausgeräuchert hatten. Darüber hielt die Sportskanone Hermann Gerdes ein Referat. Der Sage nach sei der Pirat Klaus Störtebeker nach seiner Enthauptung an seiner zum Tode verurteilten Mannschaft vorübergelaufen, und jeder, an dem er ohne Kopf vorbeigerannt war, sei begnadigt worden. Die Köpfe der anderen aber habe man auf Pfähle gespießt, zur Abschreckung.
Seeräuber hätte man sein müssen. Das war zwar gefährlich, aber bestimmt nicht so langweilig wie das Mittelstufenschülerdasein in Meppen. Zu allen Übeln kam noch der Konfirmandenunterricht hinzu, der im evangelischen Gemeindehaus hinterm Bahnhof abgehalten wurde, unter dem Vorsitz von Pastor Böker. Da kannten sich natürlich schon alle, und bloß ich kannte keine Sau.
Als ich das erste Mal da war, sollte man pantomimisch ein Hobby darstellen, das man hatte, und die anderen sollten es erraten.
Sterb, reiher, draufgeh! Bei Frau Frischke in Vallendar hatte es genügt, die wöchentliche Katchestunde stumm abzusitzen, was schon anstrengend genug gewesen war, und hier mußte man auf einmal Mätzchen machen. Was hatten denn bitteschön meine Hobbys mit dem lieben Gott und der Konfirmation zu tun? Hatte ich denn überhaupt ein Hobby?
Als erster hampelte ein Junge mit Zahnspange rum. Es sah so aus, als würde er einen schweren Rasenmäher schieben und zwischendurch einen Haufen Kopfnüsse verteilen. Dabei wippte er mit dem Kopf wie einer von diesen Wackeldackeln, die in manchen Autos hinten auf der Hutablage standen. Weil keiner rauskriegte, was das für ein Hobby war, verriet er’s: Reiten habe das sein sollen. Pferde seien seine Leidenschaft, und er reite für sein Leben gern.
Danach führte ein Mädchen, das schon ’ne ziemliche Oberweite hatte, spastische Verrenkungen aus, deren Bedeutung auch wieder niemand erriet. Darauf hätte auch niemand kommen können: »Mein Hobby«, sagte das Mädchen, als es fertig war, »sind Stickbilder.«
Wo war ich hier hingeraten? Mit Stickbildern gab sich nicht einmal Wiebke mehr ab, und die war vier Jahre jünger als dieses depperte Weibsbild!
Als die Reihe an mich kam, stand ich auf und verwandelte einen unsichtbaren Elfer. »Fußball!« riefen alle, und der Fall war erledigt.
Michael klärte ich darüber auf, daß er froh sein könne, seine Konfirmandenzeit bei der Frischke zu verhocken.
Der nächste Brief, den ich erhielt, war maschinegeschrieben und stammte vom Staatlichen Krematorium Wuppertal, Höllenfahrtstr. 6. Da aus meinem Weiterleben keine sozialen Vorteile für die Allgemeinheit zu erwarten seien, habe man nach § 67 Absatz 4 des Kontrollgesetzes zur Lenkung des Menschenüberschusses in Europa meine Bestattung beschlossen.
Sie werden aufgefordert, am kommenden Sonnabend um 10.45 Uhr mit Gesangbuch und Leichenhemd im hiesigen Krematorium Ofen 16 Klappe 9 zwecks Verbrennung Ihres schlaksigen Körpers zu erscheinen. Da Sie in Ihrem verpfuschten Leben überreichlich viel Alkohol gesoffen haben, besteht erhöhte Explosionsgefahr. Es wird daher empfohlen, eine Stunde vor der Einäscherung einen halben Liter ungekochte Schafsmilch zu trinken. Und Sie müssen vorher Ihren Wasserkopf entleeren, da das Feuer sonst erlischt.
Unterzeichnet von »Dr. Flammentod, Professor für schmerzarme Jenseitsbeförderung«. Renate lachte sich dermaßen scheckig darüber, daß gleich klar war, wer mir diesen Brief geschrieben hatte.
Tags darauf kam wieder einer von Michael Gerlach. Die hatten jetzt ’n neuen Fernseher.
Deswegen passiert bei uns ja auch nichts. Wir hocken nämlich nur noch vor dem Glotzrohr. Ischa doll, so ’n Apparat: Man braucht die Schalter nur zu berühren, und ›klick‹, schon sendet er seine tödlichen Strahlen aus, und eine Ansagerin grinst uns an. Die sagt natürlich immer das gleiche: »Und nun sehen Sie eine Wiederholung vom Soundsoten, dann folgt Bilanz und dann Monitor und dann ein interessantes Gespräch von sechs Journalisten aus fünf Ländern! Viel Spaß!« Jeden Tag die gleiche Leier.
Um mal was anderes zu erleben, habe er mit seinen Brüdern einen Abend lang Roulette gespielt, und die hätten ihn mit ihrem unverschämten Glück zur Verzweiflung gebracht.
Ich muß jetzt aufhören, die Erinnerung an das Geschehen bringt mich wieder einem Weinkrampf nahe.
Tschüß, Dein gebrochener Michael
P.S.: Spiele nie Roulette!
Toller Ratschlag. Mit wem hätte ich in Meppen schon Roulette spielen sollen? Ohne brauchbare Geschwister und vor allem ohne Roulette?
Die Zeit, in der Volker und ich zusammen gespielt hatten, ob nun Fußball oder Halma, war vorbei. Volker subtrahierte