Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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war ich weit und breit der einzige Junge, der auf so ’ner lächerlichen Chaise angeeiert kam. Und weil das Klapprad immer darauf aus war, den Saum meines rechten Hosenbeins einzuklemmen, zwischen Kette und Zahnrad, mußte ich eine Fahrradklammer tragen, so eine biegsame, hufeisenförmige Metallspange, die man sich unten ums Hosenbein schnallte, was zwar praktisch sein mochte, aber unheimlich doof aussah.

      In Mathe, für das ein haariger Dämon namens Schneidewind zuständig war, ging’s um Berechnungsregeln für Terme. Der Term als Produkt, Summe, Quotient, Differenz und Potenz. Mir hätte schon das Rechnen mit Zahlen gereicht, und nun sollte man auch noch mit Buchstaben rechnen und Fremdwörter büffeln.

      In Franz war die neue Klasse viel weiter als meine alte. Hier schwallten sie alle Französisch, als ob sie’s mit der Muttermilch eingesogen hätten, und ich verstand nur Bahnhof. Le boeuf, der Ochs, la vache, die Kuh, fermez la porte, die Tür mach zu. Um den Rückstand aufzuholen, würde ich jeden Tag, den Gott werden ließ, zehn Stunden lang französische Vokabeln bimsen müssen.

      »Nun, liebe Kinder«, sagte der Schlüter am Ende der dritten Stunde, »gebt fein acht: Ihr habt es besser als die blaugefrorenen Schüler im ehemaligen Königsberg, das heute Kaliningrad heißt – ihr habt hitzefrei!«

      Er verteilte dann noch einen vom Kultusminister verfaßten Wisch, den die Eltern zur Kenntnis nehmen und unterschreiben sollten.

       Den Schülern aller Schulen meines Amtsbereiches wird hiermit verboten, Waffen jeder Art, also auch Gaspistolen, in die Schule oder zu Veranstaltungen der Schule mitzubringen.

      »Na, hier scheinen ja schöne Sitten zu walten, wenn das ausdrücklich verboten werden muß«, sagte Mama.

      Auch am Samstag hatten wir nach der dritten Stunde hitzefrei, und ich packte so schnell wie möglich meine Sachen, um mit dem Klapprad abzuzischen, bevor mich jemand damit sehen konnte.

      Auf der Treppe lag ein neuer Brief von Michael.

       Lieber Martin!

       Heute habe ich schon wieder hitzefrei bekommen. Die ganze Woche hatte ich jetzt jeden Tag nur vier Stunden. Das Wetter ist aber auch verheerend. Tag für Tag 32–35° C im Schatten. Einfach grauenhaft!

       Wie ist’s in Deiner Schule? Gute Klassenkameraden, gute Lehrer? Oder weißt Du das noch nicht? Na, toi, toi, toi!

      Bei ihm in der Penne werde es immer mieser, an seinem Fahrrad klappere hinten das Schutzblech, und es sei auch noch was Schreckliches passiert:

       Unser Fernseher ist hin. Einfach hin. Gibt keinen Muckser mehr von sich. Altes, blödes Ding! Jetzt hat man nachmittags schon überhaupt nichts zu tun, und dann geht auch noch das Fernsehen baden. Mist!

      Und im Wambachtal würden Millionen Bremsen herumschwirren. Ich wäre trotzdem lieber wieder mal mit Michael ins Wambachtal gegangen, als zum x-ten Mal alleine mit dem Klapprad durch den Meppener Wald zu brettern. Im Wambachtal gab’s mehr Steigungen und weniger Karnickel, aber auf Dauer waren die Karnickel kein Ersatz für einen Schulfreund im Wambachtal.

      Weil der Weg von der Küche zum Eßtisch so weit und der Servierwagen so klapprig war, hatte Mama sich einen neuen gekauft und karrte damit das Geschirr, das Besteck und die Schüsseln mit Kartoffeln, Bohnen und Königsberger Klopsen ins Eßzimmer.

      »Die müßten eigentlich Kaliningrader Klopse heißen«, sagte ich, und Mama sagte, ich solle mir solche Frechheiten verkneifen, erst recht in der Hörweite von Papa und Oma.

      Renate klaubte die Servietten vom Klavier.

      Nach dem Essen brachte Papa Oma im Peugeot zurück nach Hilden, und Renate und Mama erledigten die Küchenarbeit in Rekordzeit, weil mit Mamas Schulfreundin Tante Grete der nächste Besuch ins Haus stand, und da sollte es bei uns nicht aussehen wie bei Schweins.

      Tante Grete kam mit dem Zug aus Quakenbrück und mußte am Bahnhof ein Taxi nehmen, weil Mama bis auf weiteres keinen fahrbaren Untersatz besaß.

      Die kleinen Strolche hatten gerade angefangen, als es Klingeling machte. Wiebke lief zur Tür und wußte überhaupt nicht, wen sie da vor sich hatte, obwohl Tante Grete ihre Patentante war.

      Mama schaltete den Fernseher aus. Es war schade, daß der alte nicht mehr ging, den wir von Oma und Opa geerbt hatten. Sonst hätte ich die Sendung in einem anderen Zimmer zuendekucken können.

      Vom Teetisch, den Renate gedeckt hatte, holte ich mir drei Kekse, verkrümelte mich damit in mein Zimmer und machte es mir vorm Radio bei der Bundesligakonferenzschaltung bequem. In der Saison 1974/75 war Gladbach Deutscher Meister geworden und mußte jetzt alles daransetzen, den Titel zu verteidigen. Volle Kraft voraus!

      Gegen Hannover 96 ging Gladbach schon in der 7. Minute in Führung, aber die Hannoveraner glichen aus und leisteten so heftigen Widerstand, daß Gladbach am Ende noch dankbar sein konnte für das 3:3 und den ersten Auswärtspunkt.

      Tante Grete wollte ins Jeverland weiter, und Mama entschloß sich dazu, mitzufahren und mit ihr und Oma und Opa in Jever aufs Altstadtfest zu gehen, statt Das Haus am Eaton Place zu kucken, die langweiligste Serie der Welt.

      Papa sollten wir sagen, daß Mama morgen nachmittag mit der Bahn zurückkommen werde. »Und keine krummen Touren! Daß ihr mir hier nicht die ganze Bude auf ’n Kopp stellt!«

      Können vor Lachen. Ich mußte Hausaufgaben machen.

       Pourquoi est-ce que Paris est le centre de la France? Quel pourcentage de la population française habite dans la région parisienne? Qu’est-ce qu’on fabrique dans la région parisienne?

      Die Franzmänner schienen einen schweren Fimmel zu haben mit ihrer région parisienne. Und dabei wußten sie offenkundig nicht mal, wieviele Leute da wohnten und was die herstellten, und verlangten von mir, das herauszufinden.

      Was ich noch weniger schnallte, war Mathe.

       Aus Draht soll ein Modell einer Raute mit der Seitenlänge a hergestellt werden. Wie lang muß der Draht sein?

      Hä? Woher sollte denn ich das wissen? Und was war eine Raute?

       Schreibe dazu zunächst einen ausführlichen Term. Forme diesen dann in einen kürzeren um. Beachte: In einer Raute sind alle vier Seiten gleich lang.

      Das half mir auch nicht viel weiter.

       Die Raute soll zu einem räumlichen Modell mit der Höhe b ausgebaut werden. Wie lang muß der Draht insgesamt sein? Schreibe dazu mehrere Terme in einer Gleichungskette auf.

      Gleichungskette? Da hätten sie von mir auch gleich verlangen können, in echt aus Draht ’ne Raute herzustellen. Aber halt – da standen ja auch die Lösungen, gleich untendrunter!

       a) Für die Länge des Drahtes gilt: a + a + a + a = 4 · a.

       b) Für die Gesamtlänge des Drahtes gilt z.B.: 4 · a + 4 · b + 4 · a = a + a + a + a + a + a + a + a + 4 · b = 8 · a + 4 · b.

      Da wär ich nie drauf gekommen. Aber wenn die Lösungen im Buch standen, konnten wir den Mist ja wohl kaum als Hausaufgabe aufgekriegt haben. Sondern vermutlich den Scheiß auf der nächsten Seite:

       Bestätige durch Einsetzen, daß …

      Wie bitte? Was sollte das denn nun wieder heißen? Wenn da gestanden hätte »Schlumpfe durch Schlumpfen«, dann hätte ich genausoviel gerafft.

       Bestätige durch Einsetzen,

      also mit anderen Worten: Schlumpfe durch Schlumpfen,

       daß bei 7a + 2a = 9a die Terme links und rechts vom Gleichheitszeichen jeweils denselben Wert ergeben.

      Oder die Schlumpfe denselben Schlumpf.

       Wähle 1; 2; 3; 0; (–1); (–2) für a. Lege dazu eine Tabelle an.

      Tabelle?