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Bildquellen
Die Szene mit Micky Maus wurde entnommen aus: Walt Disneys Lustige Taschenbücher Nr. 9: »Micky ist der Größte«. Stuttgart: Ehapa Verlag GmbH, S. 37.
Jugendroman
Die Sonne bollerte ins Zimmer, und als ich mich auf die andere Seite drehte, knarrte das Bettgestell. Ich rieb mir die Augen und gähnte ein Stück Tapete an, das ich nie zuvor gesehen hatte.
Ach du Schreck – jetzt war ich ja in Meppen! In unserem neuen Haus, das ich noch gar nicht kannte, weil ich den Umzug nicht miterlebt hatte und danach erst spätabends aus Jever abgeholt worden war.
Nichts wie raus aus der Kiste! Hastig frühstücken und sich dann alles ansehen, von oben bis unten.
Von meinem Zimmer konnte ich durchs Fenster auf den Balkon klettern. Volker wohnte links nebenan und verfügte über eine Balkontür, weil er drei Jahre älter war als ich und das bessere Zimmer gleich mit Beschlag belegt hatte. Seins war auch viel größer als meins.
»Untersteh dich, hier durchs Fenster zu steigen!« rief Mama, als sie mit dem Staubsauger nach oben kam. »Schluß damit!« Das war das Ende meiner Karriere als Fassadenkletterer und zugleich der Beginn meiner Laufbahn als ruhmloser Einwohner einer emsländischen Kleinstadt.
Den Auszug aus unserem Eigenheim auf dem Mallendarer Berg in Vallendar bei Koblenz hatte Mama uns damit schmackhaft zu machen versucht, daß wir es von Meppen aus nicht mehr so weit zu Oma und Opa Jever hätten. Das stimmte: Früher hatten wir regelmäßig sechs Stunden lang im vollgefurzten Pkw gehockt oder in überfüllten Zügen, und von hier aus würde die Fahrt bloß noch knapp zwei Stunden dauern.
Das Haus hatten Mama und Papa vom Bund gemietet. Georg-Wesener-Straße 47.
Im oberen Flur gab es außer dem Elternschlafzimmer und Renates, Volkers, Wiebkes und meinem Zimmer ein Bad mit Wanne und Waschbecken und ein Klo mit Waschbecken und Dusche. Zum Dachboden führte eine steile Holztreppe hoch, die man mit einem Hakenstiel nach unten klappen und dann ausfahren mußte, wenn man da raufwollte. Dabei mußte man aber aufpassen, daß einem die Leiter beim Herunterklappen nicht in die Fresse donnerte. Da oben hatten Mama und Papa nach dem Umzug allen Kraßel abgestellt, mit dem sie auch schon in unserem alten Haus nicht gewußt hatten wohin.
Verboten war es, vom Balkon in den Garten zu hopsen oder auf die von Papa übertapezierten Klingeln in den Kinderzimmern zu drücken: Wenn man das tat, bimmelte es unten in der Küche. Damit hatten einstige Hausbewohner ihr Personal alarmiert.
Im Erdgeschoß standen einem da und dort noch unausgepackte Umzugskartons im Weg. Hinter der Küche war eine kleine Vorratskammer versteckt.
Das Klavier thronte im Eßzimmer. Aber was heißt Eßzimmer? Das war ein offenes Durchgangszimmer, rechts vom Flur neben der Küche, und hinter dem Eßzimmer fing das Wohnzimmer an und noch einmal rechts davon, hinter einer Schiebetür, Papas Arbeitszimmer, fast so wie in unserem alten Haus. Die Scheißumzieherei verdankten wir dem Umstand, daß Papa als Ingenieur bei der Erprobungsstelle der Bundeswehr in Meppen bessere berufliche Aufstiegsmöglichkeiten hatte als beim Koblenzer Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung.
Durch eine andere Tür gelangte man aus Papas Büro wieder auf den Flur. Rechts zweigte dann ein Weg zu einem weiteren Klosett ab und vorn ein sogenannter Windfang zur offiziellen Haustür, der zur Begrüßung von Gästen und zum Abstellen von deren Regenschirmen dienen sollte. Einfacher war es, die Seitentür zwischen Küche und Eßzimmer zu benutzen.
Im Keller hatte Papa die Regale des Vormieters abgerissen, neue angedübelt und sein vieles Werkzeug in drei Räumen ausgebreitet. Es gab auch einen großen Trockenraum da unten, in dem es faulig stank, so als ob da einer in den Gulli geschissen hätte.
Die Fenster im Erdgeschoß und im ersten Stock waren alle doppelt. Wenn man eins aufgemacht hatte, war dahinter noch eins.
An den hölzernen Spalieren über den Bögen der Mäuerchen an der Gartenterrasse rankten Kletterrosen empor. Im Garten wuchsen, nach Mamas Zählung, insgesamt sechzig Pflaumenbäume, Kirschbäume, Birnbäume, Apfelbäume und Birken. Die Grundstücksgrenze wurde von einer Hecke gebildet, und links nebenan wohnte ein ruhebedürftiges älteres Ehepaar namens Dr. Schmölders und Gemahlin.
Papa hatte sich einen fabrikneuen Bezinrasenmäher angeschafft und wuchtete dieses brüllende Monstrum über die Grasfläche.
Durch den Briefschlitz in der Haustür vorm Windfang steckte der Postbote mittags eine an mich adressierte Ansichtskarte, die mir mein alter Kumpel Michael Gerlach geschrieben hatte. Vornedrauf war ein Luftbild von Rethem an der Aller zu sehen.
Hallöchen, Martin! Jetzt bin ich in den Ferien doch noch mal weggekommen. Rat mal, wohin: in den hohen Norden. Genau wie Du. Ätsch. Das Dorf, in dem ich wohne, heißt Großhäuslingen. Das liegt bei Verden an der Aller, gleich rechts von Deinem Meppen. Und ’nen Hund haben die hier, wo ich wohne! Meine Güte! Das ist ein lebendiges Vieh! Gerade eben erst ist er im Wohnzimmer aufs Sofa gesprungen, um Schokolade zu kriegen. Mit dem Charly, einem Pony, das ebenfalls meiner Tante gehört, bei der ich wohne, spielt der Hund immer Nachlaufen. Auf dem Pferd bin ich schon geritten, aber mit wenig Erfolg. Ich bin gleich runtergeflogen. Na, denn tschüß, Du Blödmann.
Michael Gerlach war in Vallendar seit der Grundschule mein bester Freund gewesen. Ich wollte ihm gleich zurückschreiben und suchte in Papas Büro nach Papier.
»Du kannst einem den letzten Nerv rauben«, rief Mama. »Mußt du hier rumbirsen wie so ’n wildgewordener Handfeger?«
Um Mamas Nervenkostüm zu schonen, unternahm ich mit Renates Klapprad eine Erkundungstour in die Umgebung. Schräg neben unserem neuen Haus ragte das Maristengymnasium auf und ein paar hundert Meter weiter hinten an der Straße das legendäre Hindenburgstadion des SV Meppen, der in der Oberliga Nord in der letzten Saison den dritten Platz erklommen hatte.
Da durfte man einfach so reinspazieren. Das Stadion auf dem Mallendarer Berg war viel kleiner, aber das in Koblenz-Oberwerth konnte sich durchaus messen mit dem hier, das auch eine Tribüne hatte.
Hier würde ich mir also meine Sporen als Jugendspieler verdienen, erst auf Schlacke, dann auf Rasen, und wenn ich mich ranhielt, hatte ich gute Chancen, vielleicht schon zur Europameisterschaft 1980 in die Nationalelf berufen zu werden, in fünf Jahren, als Achtzehnjähriger. Abiturvorbereitungen hin oder her. Wenn Mama und Papa sich dann auf die Hinterbeine stellen sollten, wäre ich als Volljähriger trotzdem dazu berechtigt, die Einladung des DFB anzunehmen und im EM-Finale den entscheidenden Elfer zu schießen. Pelé hatte sogar schon als Sechzehnjähriger für Brasilien gespielt.
Hinter dem Stadion zweigten verschiedene schmale Waldwege ab, und sobald man querfeldein fuhr, stieß man an den Zaun der E-Stelle und auf Schilder mit dem Hinweis, daß das Fotografieren verboten sei, obwohl es hinter dem Zaun auch nichts Dolleres zu sehen gab als Nadelbäume, Birken, Sträucher und Sand.
Das Gute an dem Wald war, daß es da nicht so steil auf- und abging wie im Vallendarer Wambachtal. Die paar Steigungen konnte man spielend mit dem Rad bewältigen, ohne absteigen und schieben zu müssen, und überall verliefen Trampelpfade. Es würde noch ein Momentchen dauern, bis ich die alle erkundet hatte.
Von unserem Haus aus führte ein holperiger, von Baumwurzeln aufgerissener Radweg an der Herzog-Arenberg-Straße entlang in Richtung Innenstadt, aber da hielten einen zwei schwere Verkehrshindernisse auf. Das erste war ein beschrankter Bahnübergang. Ich kam gerade auf dem Klapprad angepeest, als die Schranken runtergingen, mit Alarm. Pingeling, pingeling! Nachdem der Schrankenwärter die Schranken runtergekurbelt hatte, vergingen ungefähr dreihundert Jahre, in denen man sich die Titelbilder der Heftchen ankucken konnte, die ein Kioskbesitzer da ausgehängt hatte. Dann zockelte in Zeitlupe ein vorsintflutliches Schienenfahrzeug vorüber, aber die Schranken blieben unten. Nach weiteren dreihundert Jahren rollte dann von links ein Güterzug mit schätzungsweise zehn Milliarden Anhängern heran.
Kattung, kattung, kattung, kattung …