Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Das hatte Papa Volker mal aus Amerika mitgebracht.

      Nebenan in Renates Zimmer gammelte immer noch das Gipsbein im Kleiderschrank rum. Das würde auch noch dran glauben müssen vor dem Umzug nach Meppen.

      Für ihr Bett hatte Renate einen orangen Überwurf mit gelber Litze gehäkelt und ein Sonnenblumenposter an die Wand gepinnt.

      Neben dem Plattenspieler lag eine Zange zum Verstellen der Geschwindigkeit von LP auf Single. Die Flusen am Saphir mußte man dann und wann runterpusten. Hey Leute, kauft beim Trödler Abraham. Oder Ingo Insterburg: Ich liebte ein Mädchen am Südpol, was selten da geschieht wohl. Ich liebte ein Mädchen in den Niederlanden, unsere Kleider wir niemals wiederfanden! Oder Bernd Clüver: Und der Junge mit der Mundharmonika singt von dem, was einst geschah, in silbernen Träumen von der Barke mit der gläsernen Fracht, die in sternklarer Nacht deiner Traurigkeit ent-ent-ent-ent-ent-ent-ent-ent, da war ein Sprung in der Platte, aber auf die war sowieso geschissen.

      Ihre abgeschnittenen Mädchenzöpfe verwahrte Renate in ihrem alten Bastköfferchen.

      Ein Reclamheft: La Jalousie. Ein ganzes Buch über ’ne Jalousie zu schreiben! Die spinnen, die Franzosen.

      Und der Volksbrockhaus. Geschlecht, Geschlechtskrankheiten, Geschlechtsorgane, Geschlechtsreife, Geschlechtstrieb. Weibl. Beckeneingeweide: a Gebärmutter, b Eierstock, c Eileiter, d Scheide, e kleine Schamlippen, f große Schamlippe. Männl. Beckeneingeweide: a Hoden, b Nebenhoden, c Samenleiter, d Samenbläschen, e Vorsteherdrüse, f Harnröhre, g Schwellkörper der Harnröhre, h Schwellkörper des Penis, i Eichel mit Vorhaut.

      Onanie, die, geschlechtl. Befriedigung durch Reizung der äußeren Geschlechtsteile.

      Im oberen Bad war das Fenster nicht dicht, da tröpfelte das Regenwasser durch. In der Kloschüssel hing ein stinkendes Stück Duftseife im Plastikgitter.

      Polykur Balsamspülung auf dem Wannenrand und 8x4 gegen Achselnässe. Shamtu Shampoo bringt Spannkraft ins Haar.

      Auf dem Dachboden stand bald noch mehr Plunder und Gedöns rum als im Keller. Ekelhafte gelbe Schaumstoffstreifen, Koffer mit losen Henkeln, Carrerabahnteile, Ziegel, Bretter, Besenstiele und aller mögliche Schiet und Deubel. Volkers alter Jeep und der Blinkscheinwerfer mit dem Morse-Alphabet hintendrauf, ein Karton mit Weihnachtsschmuck und einer mit Büchern: Der Trotzkopf, Daddy Langbein und Matthias und das Eichhörnchen. Und ein Karton mit Segelflugzeugmodellteilen, die Volker nie zusammengebaut hatte.

      In einer Kiste mit Büchern von Opa Schlosser lag eine hebräische Bibel. 1434 Seiten, aber von hinten nach vorne numeriert. So ähnlich wie bei den Chinesen, die schrieben ja von oben nach unten statt von links nach rechts. Oder von unten nach oben?

      Alte Sterne. Pompidou gab kein Pardon. Da ging es um zwei Mörder, die in Frankreich mit der Guillotine hingerichtet worden waren. Zack, Kopf ab.

      Eine Titelseite mit kleinen Männern, die große Frauenbrüste abstützten.

      Playgirl der Woche, Zeus Weinsteins Abenteuer und das goldene Kaufhof-Angebot. Und Dingsbums, die Witzeseite mit dem undressierten Mann. Die hätte ich eigentlich sammeln können, aber bei der Hitze war ich viel zu faul, die Seiten alle rauszureißen.

      Ein verkohlter Totenkopf und ein Gebiß: Bormann ist tot. Das war durch Zahnvergleiche bewiesen worden. Schön und gut, aber wer war Bormann?

      Siamesische Zwillinge. Die armen Schweine. Oder der Querschnittgelähmte, der sterben wollte: Warum bringt mich keiner um? Hatte einen Köpper in nur siebzig Zentimeter tiefes Wasser gemacht, und jetzt lag er da und konnte bloß noch seinen Kopf bewegen.

      Ein Menschengehirn in einem riesengroßen Vortragssaal: Ein Computer, der es dem Gehirn des Menschen gleichtun wollte, müßte größer sein als dieser Saal.

      Sterbende und Leichen auf den Straßen von Kalkutta. Da blieb nicht einmal jemand stehen, wenn da einer in der Ecke lag und verhungerte.

      In einem anderen Stern stand was über Leute, die in den Anden mit dem Flugzeug abgestürzt waren und die Toten aufgefressen hatten. Erst die Gehirne, die Lungen und die Nieren und dann den Rest.

      Zum Fürchten war auch das Foto von dem fünfzehnjährigen Jungen, der sich aus Angst vorm Zeugnis aufgehängt hatte. Da konnte man ja Alpträume von kriegen.

      Und dann die Werbung für Patentex oval und Sexanorma und der Schweinkram von Zweitausendeins. Bildgeschichte des Pin Up Girls. Wenn man genau hinkuckte, sah man auf einer klitzekleinen Zeichnung auch nackte Männer mit steifen Schwänzen.

      Von unten rief Mama nach mir. Ich sollte ihr die schwere Einkaufstasche in die Küche tragen.

      Zum letzten Mal ins Wambachtal mit Michael Gerlach. »Halt’s Maul, du Hund«, das wollten wir im Kanon dem Attila vorsingen, aber der war weg. An Altersschwäche eingegangen. Oder eingeschläfert worden.

      Dro Chonoson mot dem Kontroboß. Hoffentlich gab’s auch in Meppen einen anständigen Wald.

      In Papas Arbeitszimmer stapelten sich die Umzugskartons, obendrauf und an den Seiten beschriftet: Küche, Wohnzimmer, Eßzimmer.

      Zerbrechlich!!!

      In Vasen und Gläser knüllte Mama Zeitungspapier. Wozu das wohl gut sein sollte. Sie hatte schon ganz schwarze Finger davon. »Aus dem Weg!«

      In unser Haus sollte ein Arzt einziehen mit seiner Familie. Der Mietvertrag war bereits unterschrieben.

      Abends fuhr ich noch ein letztes Mal mit dem Rad über den Mallendarer Berg. Alle Wege lang und bis hinten raus, wo das Reha gebaut wurde. Rehabilitationszentrum hieß das offiziell. Da hatten früher wilde Apfelbäume gestanden, und einmal hatten Michael Gerlach und ich da einen Drachen steigen lassen, aber der war gleich beim ersten Flugmanöver abgestürzt und kaputtgebrochen.

      Auf dem Fußballplatz versuchte ich, das Rad vorne so hochzureißen, wie Michaels Bruder Harald das konnte, und dann auf dem Hinterrad weiterzufahren.

      Im Zug hatte ich ein ganzes Abteil für mich alleine. Erster Klasse. Die Fahrkarte hatte Tante Dagmar spendiert. Die schwamm geradezu in Geld.

      »Ich erwarte, daß du dich mustergültig benimmst«, sagte Mama durchs Fenster, als der Schaffner schon pfiff. »Hast du gehört?«

      Über die Moselbrücke. Vorne das Deutsche Eck und auf der anderen Rheinseite die Festung Ehrenbreitstein. Sowas gab’s in Meppen nicht, da war alles flach.

      Der Zug fuhr auch durch Lützel. Wo wir schon überall gewohnt hatten. Und was wohl aus Angelika Quasdorf geworden war. Die mußte jetzt bald dreizehn sein und einen Busen haben.

      Aber dein Scheiden macht, daß mir das Herze lacht.

      Am schönsten war’s auf der Horchheimer Höhe gewesen, als ich noch nicht zur Schule gemußt hatte. Niemals Hausaufgaben auf und jeden Tag im Wäldchen.

      In Hannover war ich tagsüber Schlüsselkind und durfte machen, was ich wollte. Gewaschen und gezahnputzt und zwanzig Mark Taschengeld im Brustbeutel. So gut hatte ich’s lange nicht gehabt.

      Ich sah mir die Plattenabteilung bei Karstadt an, die aber auch nicht anders war als die in Koblenz.

      Otto Waalkes hätte mal wieder ’ne neue Platte machen können. Die Doppel-LP von Insterburg & Co. war mir zu teuer. Was man sich alles nicht leisten konnte, das war schon frustrierend.

      Im Landesmuseum knarzten die Fußbodenbretter, und die Wärter kuckten immer so argwöhnisch, daß ich mich da nicht lange aufhielt.

      Gut gefiel mir im Rathaus die Fahrt im schiefen Fahrstuhl. Das sei der einzige schiefe Fahrstuhlschacht in Europa, sagte der Mensch, der da die Knöpfe drückte. Der Fahrstuhl ratterte und quietschte so, daß man immer dachte: Nun ist’s aus.

      Zum Essen ging ich ins Funkhaus. An den ersten beiden Tagen rief der Pförtner noch bei Tante Dagmar an, bevor er mich reinließ, aber dann war ich schon ein alter Bekannter für den.

      In der Wohnung sah ich wieder Tante Dagmars Platten