Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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die Autofahrer vorne in der Warteschlange den Motor wieder an, aber die Schranken blieben geschlossen. Was sollte denn jetzt noch kommen?

      Nach ich weiß nicht wievielen Jahrtausenden näherte sich von rechts ein Personenzug, der sich im Schneckentempo auf den Meppener Bahnhof zubewegte. Zur allgemeinen Verwunderung kurbelte der Schrankenwärter die Schranken schon drei Monate danach wieder hoch.

      Pingeling, pingeling …

      Der nächste Verkehrsstau bildete sich vor der Hubbrücke. Wenn die sich für größere Pötte im Schiffsverkehr öffnete, stand der Autodurchgangsverkehr solange still. Für Radfahrer und Fußgänger existierte ein seitlich gelegener Überweg. Da mußte ich das Klapprad hinaufschleppen und am anderen Ende wieder nach unten. Wenn ich den Stadtplan richtig verstanden hatte, floß unter dieser Brücke die Hase hindurch und mündete ein Stück weiter rechts in die Ems.

      In der Innenstadt besah ich mir den Brunnen, das Kaufhaus Ceka und Meppens ganzen Stolz, das olle Rathaus. Das war auf neunzig von hundert Ansichtskarten abgebildet.

      Links daneben lauerte das Kreisgymnasium Meppen auf mich, mit einer eigenen Kirche und einem geteerten Schulhof, auf den ich vom Hoftor aus einen Blick riskierte. Als Protestanten, hatte Papa gesagt, würden wir auch im Emsland in der Diaspora leben, so wie ehedem im Rheinland.

      Am späten Nachmittag radelte ich noch einmal raus, in das Waldstück hinterm Stadion, und da hockte ein Kaninchenrudel und mümmelte Unkraut. Wenn man in die Hände klatschte, hoppelten ein paar von den Kaninchen weg, aber nicht weit. Um sie in die Gänge zu bringen, mußte man mit schrillem Geklingel auf sie zugefahren kommen, mitten hinein in die Meute. Dann spritzte die ganze Bande auseinander und verteilte sich im Unterholz. Rennen konnten sie ja gut, die Karnickel, aber so schreckhaft wie die hätte ich nicht sein wollen.

      Meine Starschnitte von Seeler, Grabowski und Bonhof hatten den Umzug glimpflich überstanden, mit kleineren Macken zwar, aber im großen und ganzen doch so heile, daß ich sie in meinem neuen Zimmer wieder aufhängen konnte.

      Mamas und Papas altes Radio, das schon in Vallendar die größte Zierde meines Zimmers gewesen war, stand auf dem einen Schiebetürenschrank.

      »Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt«, hatte Papas Tante Hanna mal gesagt, die 1945 die Flucht aus Ostpreußen überstanden hatte und jetzt als Rentnerin im Allgäu residierte. Wir waren schon viermal umgezogen, seit ich auf der Welt war: zwei Jahre nach meiner Geburt von Hannover nach Koblenz-Lützel, dann in das Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, 1970 in unser Eigenheim auf dem Mallendarer Berg in Vallendar bei Koblenz und jetzt nach Meppen. Am öftesten von uns allen war Papa umgezogen. Geboren worden war er in Schwarzenau und großgeworden in Schirwindt, einem ostpreußischen Kuhdorf an der litauischen Grenze, in das Papas Vater als Pfarrer versetzt worden war, und dann in Marienwerder. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft hatte Papa sich von Petrosawodsk, irgendwo in Rußland, bis nach Cottbus durchgeschlagen, zu Verwandten, und Ende 1945 zu seinen nach Jever geflüchteten Eltern und Geschwistern, und von Jever war’s nach dem Abitur nach Hannover gegangen, wo Papa sich als Maschinenbaustudent in Mama, die er schon aus Jever kannte, verliebt hatte, und dann hatten Mama und Papa noch x-mal ihre Mietwohnungen gewechselt …

      Meppen war die Endstation. Hier würden wir bleiben, bis auf Renate, die nach ihrem bestandenen Abitur eine Hausfrauenschule besuchen wollte, in Birkelbach, um da Kochen, Backen und Bettenmachen zu lernen. In Maidentracht, mit allem Drum und Dran. Dazu hatte Renate sich von Oma Schlosser überreden lassen. In Birkelbach war Oma Schlosser ihrerseits nach dem Ersten Weltkrieg zur Hausfrau ausgebildet worden. Das Trachtenzubehör hatte Renate bereits beisammen, und als Oma Schlosser uns besuchte, nähte sie in jeden Fetzen ein Namensschildchen: Schlosser, Schlosser, Schlosser, Schlosser …

      36 Stück.

      In Meppen würden auch wir anderen das Abitur machen: Volker 1979, ich 1981 und Wiebke 1985, frühestens, wenn keiner von uns klebenblieb. Bei Wiebke wußte man nie, ob sie wirklich so doof war, wie sie aussah, in ihren kreischbunten Helancastrumpfhosen, oder ob sie sich nur aus Durchtriebenheit so dämlich anstellte, daß am Ende immer ich die Senge kriegte.

      Renates Klapprad war das einzige Fahrrad, das keinen Platten hatte, und damit es nicht geklaut wurde, mußte es abends in den Keller getragen werden. Der Arschkeks, der das tun mußte, weil tagsüber außer mir kein anderer das Rad benutzt hatte, war meistens ich.

      Wahrhaft eklig war die Stubenfliegenplage. Sowas hatten wir noch nicht erlebt in Rheinland-Pfalz. Da war ab und zu einmal ein Exemplar um die Stehlampe gekreist, oder es hatte sich eins in der Küche zwischen Gardine und Fensterscheibe verirrt. In Meppen surrten Myriaden der dicksten Brummer durchs Haus, gefolgt von leichteren Schwadronen mit grauem Bauch und fickrigem Flugverhalten. In der Küche burrselten sie über den Kochtöpfen, krabbelten über den dreckigen Mülleimerschwingdeckel, lutschten das Fett von den Kacheln ab und nuckelten am Obst, und wenn man beim Essen nicht wild genug mit den Händen wedelte, kamen die Fliegen angeschnurrt und setzten sich kackfrech auf jeden Gabelbissen. Auf einem Spiegeleidotter, das ich mir bis zum Schluß aufgehoben hatte, ließ sich einmal, als ich mir das ins Maul schieben wollte, eine Fliege nieder und tunkte vor meinen Augen den Saugrüssel ins Eigelb. Das hätte sich auch Mahatma Gandhi nicht bieten lassen.

      Mit eingerollten Zeitungen brauchte man den Fliegen allerdings nicht zu kommen. Selbst wenn man sich bis auf kurze Distanz herangepirscht hatte, rieben die sich, was ich besonders widerlich fand, noch genüßlich die Vorderbeine, und dann gingen die Mistviecher plötzlich geduckt in Startposition, so als ob sie den Braten gerochen hätten, und sobald man zuschlug, waren sie abgezwitschert.

      Volker fand heraus, mit welcher Waffe wir die Fliegen schlagen konnten: Einmachgummis. Wenn man die straff über den Daumen spannte und genau genug zielte, hatte keine Fliege, die da irgendwo an der Fensterscheibe saß und sich alles mögliche auf ihre natürliche Reaktionsgeschwindigkeit einbildete, die geringste Chance. Selbst aus vier bis fünf Metern Entfernung schlugen die Einmachgummis blutige Schneisen in das Dickicht der Fliegenpopulation.

      Wir gingen im ganzen Haus auf die Jagd und zerdötschten Hunderte von den Biestern. Einem bumsenden Fliegenpärchen, das im Freistil durch Papas Arbeitszimmer propellerte, gab Volker im Liegen mit einem Kunstschuß den Rest, wobei auch die Zimmerdecke einen Spritzer abkriegte, und wir hatten eine Weile damit zu tun, die Spuren zu beseitigen.

      Unser Verschleiß an Einmachgummis war groß, weil die meisten davon nach einem Volltreffer mit Innereien beschmiert waren und mit spitzen Fingern zur Mülltonne getragen werden mußten.

      Mama fiel irgendwann auf, daß ihr Einmachgummivorrat zur Neige ging, und als sie dahinterkam, woran das lag, untersagte sie Volker und mir die Fliegenjagd, aber wir machten trotzdem weiter, heimlich, bis Oma Schlosser uns dabei ertappte: »Hat die Mutter euch denn nicht verboten, hier mit diesen Gummis rumzuflitschen?«

      Oma Schlosser trug sich mit dem Gedanken, in eine Wohnung in Meppen zu ziehen, wegen der guten Luft und der Nähe zu Papa, Omas Kronensohn. Es gefalle ihr gut in dieser betriebsfernen Einsamkeit, sagte Oma.

      Wenn nachmittags die Spülmaschine lief und es sonst nichts zu tun gab, setzte Oma sich an den Eßtisch und legte Patiencen. Das waren Kartenspiele, die man solo hinter sich bringen mußte, mit dem Kartenhaufen als einzigem Gegner. Zur Geduldsübung. Aber wozu sollte man sich in Geduld üben, wenn man ungeduldig war und Abenteuer erleben wollte, draußen, Ende Juli, in den letzten, brüllend heißen Tagen der Sommerferien?

      Oma Schlosser wollte gern mal wieder nach Afrika, nach Deutsch-Südwest, zu einer Jugendfreundin, Wilma von Hammerstein, die dahin ausgewandert war und eine Farm besaß, aber als nächstes mußte Oma zu einem Internisten nach Mettmann.

      Sie lud mich dazu ein, mit ihr etwas Vierhändiges am Klavier einzuüben, von Diabelli, aber das ging über meine Kräfte. Da strampelte ich lieber auf dem Klapprad durch die Jagdgründe der Karnickel oder quer durch die Stadt und über die Emsbrücke nach Esterfeld und in andere, noch unbekannte Stadtteile.

      Weil der Waschmaschinenschlauch geborsten war und das bestellte Ersatzteil fehlte, mußte Mama unsere sämtliche Kledage von Hand waschen, und weil die Wäscheklammern nicht ausreichten, wurde