Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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aber ich rannte noch ein ganzes Stück weiter, ehe ich eine Verschnaufpause einlegte.

       Mein lieber Jäger, guter Jäger, lauf, lauf, lauf …

      Mit Krawallbrüdern wie denen hatte ich schon in Vallendar Ärger gehabt. Daß die auch in Meppen ihr Unwesen trieben, hätte ich mir eigentlich denken können. Was hatten die bloß davon, einem auf den Sack zu gehen? Wegelagerer waren das, Tagediebe, die Löcher in die Luft glotzten und sich toll vorkamen, wenn sie jemanden, der jünger und kleiner und in der Minderheit war, in die Dornen schubsen durften.

      An den Unterarmen hatte ich Kratzer. In den Briefkasten in der Jahnstraße würde ich so bald nichts mehr einwerfen.

      Als Mama abends draußen die Wäsche abhängte, war die Gelegenheit günstig, unbemerkt in Vallendar bei Michael Gerlach anzurufen. Ich wollte ihm mein Abenteuer mit den beiden Knalltüten erzählen, und als ich damit fertig war, erzählte Michael mir von den Schweißausbrüchen, die ihn heimsuchten, weil morgen in Koblenz die Schule wieder beginne. Die Sommerferien seien irre schnell verflogen. Wir redeten noch darüber, ob es möglich sei, die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde in Ferienzeiten zu verlangsamen, mit Bremsraketen, und dann blökte Michaels Bruder Harald dazwischen, der mit Volker sprechen wollte.

      In Niedersachsen dauerten die Ferien zwar noch eine Woche länger, aber was hatte man davon, wenn nichts los war?

      Renate kam aus Jever zurück, mit ihrem geliebten Olaf, den sie nur noch selten zu sehen kriegte, seit er beim Barras diente. Olaf war Juso und wollte nach der Bundeswehrzeit Politologie studieren, wovon Papa nicht begeistert war.

      Oma Schlosser hatte Schwindelanfälle. Einmal wäre sie fast hingefallen, als sie vom Eßtisch aufstand, und dann legte sie sich auf dem Wohnzimmersofa in die Waagerechte, und wir durften keinen Pieps mehr von uns geben und nur auf Zehenspitzen durchs Haus schleichen.

      Am Samstag kam Michaels nächster Brief.

       Lieber und süßer Martin!

      Das hatte er sich nicht verkneifen können.

       Ich sitze mal wieder hier und schreibe Dir, anstatt Hausaufgaben zu machen, einen Brief. (Vielleicht hast Du’s schon bemerkt.) Und ich habe eine Frage: Seid Ihr verrückt geworden? Das Telefongespräch neulich muß doch ein Vermögen gekostet haben! Ihr habt doch mindestens fünf volle Minuten gequasselt, Du und der Volker! Also ich kann Dich nicht anrufen, das lassen meine finanziellen Verhältnisse nicht zu.

       Holger und ich waren übrigens beim Friseur. Ach, was sage ich – wir waren in Frankensteins Werkstatt! Der Kerl hat aus uns nämlich echte Monster gemacht! Der Holger sieht aus, also ob er einen braunen Sturzhelm aufhat. Na, und bei mir steht’s auch nicht besser.

       Und bei Dir? Freust Du Dich genauso auf die Schule, wie ich mich darauf, daß Du bald wieder hingehen mußt? Nur noch fünf Tage, fünf kurze, schnell verrinnende, qualvolle Tage. Und wenn der Brief hier bei Dir ankommt, sind es nur noch vier und sogar nur noch drei Tage. Hihi! Hehe! Das wird ein Genuß, wenn ich mir am 7. vorstelle, daß Du jetzt wieder zur Schule mußt. Hehehe!

       Na, tschüß denn, und komm mal vorbei.

      Die Bemerkungen über den Schulbeginn mochten gemein sein, aber die Briefe von Michael Gerlach gefielen mir trotzdem besser als die Post, die Papa jeden Tag geschickt kriegte, vom Finanzamt, von Versicherungen oder vom Beamtenheimstättenwerk, mit der Anrede: »Sehr geehrter Bausparer!«

      Komisch, daß Papa noch Bausparer war, wo er das Haus in Vallendar doch schon vor sechs Jahren gebaut hatte.

      In der ersten Hauptrunde im DFB-Pokal schmiß Borussia Mönchengladbach Werder Bremen mit 3:0 aus dem Rennen. Aber ob Udo Lattek als Trainer wirklich soviel taugte wie Hennes Weisweiler, das würde sich zeigen müssen.

      Am Sonntag liefen nach dem Frühstück alle außer Oma noch in Schlafanzug und Bademantel durch die Bude, als es klingelte.

       Ick sitze hier und esse Klops,

       Uff eenmal kloppt’s …

      Papa linste aus dem Küchenfenster. »Ach du Kacke«, sagte er, »das ist der Ettinger mit seiner Alten!« Und dann hastete er die Treppe hoch, sich anziehen.

      Der Ettinger war ein Arbeitskollege von Papa, und der klingelte schon zum zweitenmal, als Mama, die sich schnell ein Kleid übergestülpt hatte, mit nassen Haaren von oben angebösselt kam, um in rasender Eile das Wohnzimmer aufzuräumen.

      Die Ettingers machten bereits Anstalten, wieder zu gehen, obwohl sie das Gepolter im Haus gehört haben mußten, und Mama riß erst im letzten Moment die Tür auf und entschuldigte sich für die Unordnung. Daß es in Meppen üblich war, Bekannten sonntags um elf Uhr vormittags Hausbesuche abzustatten, auch unangemeldet, hatte ja keiner ahnen können.

      Mama kochte Kaffee und deckte den Wohnzimmertisch, und nach geraumer Weile stiefelte dann auch Papa die Treppe runter, im Anzug und nach Frisiercreme riechend.

      Nach dem Essen lagen Oma die Rindsrouladen so schwer im Magen, daß sie Abstand davon nahm, uns bei dem geplanten Ausflug ins holländische Moor zu begleiten. Renate und Olaf blieben lieber unter sich, bevor Olaf wieder zu den Fahnen eilen mußte.

      Mama packte Stullen und Gesöffe ein, und Papa sagte, wir sollten am besten Messer mitnehmen, um uns damit durch die Stechfliegenschwärme zu schneiden.

      In Koblenz hatten wir fast nie irgendwelche Sonntagsausflüge unternommen, weil dafür neben dem Hausbau keine Zeit geblieben war. In Meppen sollte das nun anders werden.

      Im heißen Peugeot hatte Mama den Shell-Atlas auf dem Schoß und stritt sich mit Papa über die Route.

      »Wo zum Teufel sind wir denn hier jetzt?« fragte Papa.

      »Zwischen Hamburg und HaÏti«, sagte Volker.

      Irgendwo in den Niederlanden stiegen wir aus und sahen uns die flache Landschaft an.

      Mit den Fliegen hatte Papa recht gehabt. Auf der Rückfahrt surrten sie zu Dutzenden im Auto herum, obwohl wir alle Fenster runtergekurbelt hatten, um die Viecher durch die Zugluft zu verscheuchen. Und trotz Fahrtwind lastete subtropische Hitze auf uns, so daß einem die Oberschenkel aneinanderpappten, wenn man nicht so breitbeinig dasaß wie Volker.

      Abends schloß Papa im Eßzimmer und in der Küche die Lampen an. Das sei ja nun auch längstens fällig gewesen, sagte Mama.

      Noch drei Tage Ferien.

      Wiebkes künftige Lehrerin hatte ein Papier mit den Namen und Adressen von Wiebkes neuen Mitschülern bei uns abgeliefert. Mit diesem Wisch bewaffnet, watschelten Mama und Wiebke zu einem Mädchen, das in einer Parallelstraße wohnte, die Kellners Tannen hieß, und schon hatte Wiebke auch hier wieder eine Freundin. Carola Kowalski.

      Renate knüpfte einen Lampenschirm aus gelber Baumwolle mit Holzperlen für Olafs Eltern und schrieb dann einen Brief an Oma Jever zu deren 69. Geburtstag. Im August häuften sich in unserer Sippe die Geburtstage. Das lag daran, daß einst die Winternächte lang gewesen waren und es noch kein Fernsehen gegeben hatte. So hatte Mama mir das mal erklärt.

      Enid Blytons Krimis in der Gemeindebücherei bei der Gustav-Adolf-Kirche kannte ich schon alle, und ich lieh mir ein Buch über drei Freunde aus, die bei einem Fahrradausflug eine Bande von Dieben überführten und der Polizei auslieferten. Per pedales durch die Lande streifen, irgendwo zelten, mit guten Freunden, und nebenbei einer Verbrecherbande das Handwerk legen: So hätte auch ich gern meine Sommerferien verlebt!

      Am Mittwoch kriegte ich mehr Post als Papa: eine Karte von Tante Dagmar und gleich zwei Briefe aus Vallendar.

       Liebes und süßes Martinlein!

      Das war typisch Michael. Der konnte es nicht lassen. Meine Rache würde fürchterbar sein.

       Aus Langeweile, und weil ich so viel Hausaufgaben aufhabe, will ich Dir einen Brief schreiben. (Eigentlich ja zwei,