bengalischer Hitze auf dem Klapprad mitnehmen zu müssen, aber wenn ich stur geblieben wäre, hätte Wiebke losgeheult, und dann wäre Mama mir aufs Dach gestiegen.
Mit Wiebke hintendrauf gondelte ich zu einem Supermarkt in der Haselünner Straße. Wenn man da Wäscheklammern kaufen konnte, dann hatten sie die gut versteckt. Ich hühnerte zehnmal durch den ganzen Laden, ohne welche zu finden, und als ich zum elften Mal an der Eistruhe ankam, holte ich da zwei Eis zu fünfzig Pfennig raus, bezahlte sie an der Kasse mit meinem eigenen Taschengeld und spendierte Wiebke das eine davon. Da konnte sie mal sehen, was für einen generösen großen Bruder sie hatte.
Wir wollten gerade den Laden verlassen, als ein ohrenbetäubender Knall erschallte. Ob da jemand geschossen hatte?
Irrtum. In der prallen Sommerhitze war der Schlauch im Hinterreifen von Renates Klapprad geplatzt. Und ich durfte das platte Rad nachhause schieben.
Schläuche würden nicht so einfach platzen, sagte Papa. »Wahrscheinlich bist du wieder wie so ’n Irrer über die Bordsteinkante gejagt.«
Obwohl Wiebke bezeugen konnte, daß das nicht stimmte, riß Papa mir das Rad aus der Hand und marschierte wütend damit in den Keller, und Mama war eingeschnappt, weil ich ihr keine Wäscheklammern mitgebracht hatte.
Zwischen Hecke und Bürgersteig zog sich ein zwei Meter breiter Streifen mit Unkraut hin, der vom Ende des Grundstücks in der Herzogstraße bis zur Ecke Georg-Wesener-Straße reichte. Die Vormieter hatten da alles lustig wachsen lassen, aber Mama und Papa störten sich an dem Unkraut, und weil ich mich jetzt auch einmal nützlich machen sollte, wurde ich mit Schubkarre, Schövel und Grabegabel in diese Wildnis entsandt.
»Und sieh zu, daß du das Zeug mit der Wurzel zu fassen kriegst, sonst ist die ganze Arbeit für die Katz!«
Es ging auf keine Kuhhaut, was da alles wuchs. Namentlich kannte ich nur Brennesseln, Disteln, Klee und Löwenzahn, aber ich hätte wetten können, daß da auch Quecke, Melde, Malve, Giersch und Franzosenkraut sprossen. Und Vogelmiere und Knöterich. Um in dem harten, staubtrockenen Boden zu gedeihen, mußten diese Apparate endlos lange, bis ins Grundwasser ausfasernde Wurzelgeflechte besitzen. Aber daß ich hier das Erdreich zwei Meter tief umgrub, konnten Mama und Papa auch nicht von mir verlangen.
Ich hackte, schürfte, stocherte und wühlte eine halbe Stunde lang, bis mir das T-Shirt am Rumpf klebte, und trotzdem hatte ich nur einen kleinen Anfang geschafft. In der Schubkarre lag fast mehr Erde als Unkraut, und ich bedeckte die Erde mit einem Haufen abgerissener Strünke. Um die Wurzeln konnte ich mich auch später noch kümmern. Die liefen mir schon nicht weg.
Als ich mit der ersten Schubkarrenladung zu dem Komposthaufen eierte, den Papa hinter der Garage angelegt hatte, fing Mama mich auf dem Terrassenweg ab und kuckte in die Karre. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst das Zeug mit der Wurzel rausholen!«
»Manche von den Dingern sind eben so groß, daß man die nicht in einem Stück abliefern kann«, sagte ich, aber damit konnte ich Mama nicht überzeugen.
Ich lud die Schiete ab und trottete zurück aufs Schlachtfeld. Von den Unkrautwurzeln reichten viele so tief hinab, daß man halb Meppen hätte abreißen müssen, um die alle vollständig auszujäten. Wieso hatte ich bloß Eltern, die sich auch noch für das Unkraut außerhalb ihrer Gartenhecke verantwortlich fühlten? Da hätten sie mich auch gleich zum Jäten nach Nebraska entsenden können.
Die Fingernägel machte ich mir notdürftig mit Wurzelbürste, Wasser, Seife und danach noch mit der Nagelscherenspitze sauber, und dann lief ich zum Hindenburgstadion, wo der SV Meppen den VfL Osnabrück empfing. Es war das erste reguläre Fußballspiel zwischen Erwachsenen, das ich live zu sehen bekommen sollte. Dafür berappte ich zwei Mark Eintritt.
Einem Handzettel entnahm ich das Spieleraufgebot des SV Meppen: Kugler, Bernert, Mindermann, Stricker, Tappel, Hüring, Heuing, Eilers, Höfer, Runde, Persicke und Görts.
Soweit ich wußte, handelte es sich bei diesen Spielern nach den Statuten des DFB um Amateure, die für ihre Einsätze kein Geld kriegten, bevor sie es schafften, mit ihrem Verein in die Zweite Liga Nord aufzusteigen. Davon konnten die Spieler des SV Meppen allerdings nur träumen. Sie holzten und foulten, leisteten sich Fehlpässe, stolperten über die eigenen Füße und verloren verdientermaßen mit 1:5. Da war ja sogar Hannover 96 noch besser!
Ich hatte mir einen Platz an der Mittellinie ausgesucht, gegenüber der Tribüne, und einmal mitbekommen, wie zwei keuchende Spieler sich wenige Meter vor meinen Augen ums runde Leder balgten. Wie zwei blindwütige Ochsen, die aufeinander losgingen und dabei ausschlugen, stöhnten und rotzten. Im Fernsehen sahen Fußballspiele nicht so brutal aus.
Am Donnerstag kam ein Brief von Michael Gerlach.
Lieber, süßer Martin!
Das war die Rache dafür, daß ich ihn in meinem letzten Brief als »Vielgeliebter Michael« angeredet hatte.
Seit ich aus Großhäuslingen wieder raus bin, habe ich nur Ärger. Von meinem Opa habe ich ein Flitschflugzeug, also ein Flugzeug, das man mit ’nem Gummi abschießt, geschenkt bekommen. Und eins mit Gummimotor habe ich mir selbst gekauft. Alles schön und gut. Bloß waren die Dinger nicht sehr haltbar. Bei dem zum Flitschen gingen die Flügel gleich in Fetzen, denn die Landungen auf dem Sportplatz waren nicht von Pappe. Aber das ließ sich ja wieder kleben, nur waren die Landungen dann noch weniger von Pappe. Und schon – knacks – war das Scheißding in zwei Hälften gekracht. Wenn Du mal zu Besuch kommst, kannst Du die Splitter betrachten. (Holger hat die Überreste nämlich zertreten.)
Na, und das Flugzeug mit dem Gummimotor (Flügel aus 2 mm dickem Styropor, der Rest aus Plastik, Kostenpunkt 6,95 DM) verhielt sich auch nicht besser. Erstens flog es gar nicht (die Gummis rissen dauernd), und zweitens konnte man das Gummi bald gar nicht mehr aufdrehen. Na ja, zum Segeln eignete sich das Ding noch ganz gut, auch wenn bei den Landungen die Flügel zerbrachen.
Da ich noch etwas Geld übrig hatte und Holger von den Leistungen des Flitschflugzeugs ungemein beeindruckt war, kauften wir uns beide noch mal welche. Holgers kostete 8,00 DM. Man konnte es immerhin als Flugzeug identifizieren. Bei meinem für 4,60 DM war das gar nicht so einfach. Da stand irgendwas von »Apollo« drauf und: »100 feet or higher! WOW!« Man konnte einen Fallschirmspringer, eine Andeutung von Rakete und irgendwelches düsenjägerähnliches Silberzeug erkennen. Also drei Teile, die sich als völlig fluguntüchtig erwiesen, egal was man damit anstellte. Holgers Flugzeug aber flog super! Arrg! Ich ärgere mich noch kaputt!
Wie lange hast Du eigentlich noch Ferien? Ich nur noch zwei Tage. Buuhää! Das waren überhaupt die idiotischsten Ferien, die ich je mitgemacht habe, abgesehen von der Woche in Großhäuslingen. Scheißdreck, verdammter.
So, ich mach jetzt Schluß.
Der Trottel Michael!
Diesen Brief beantwortete ich sofort, obwohl es außer der Sache mit dem Fahrradschlauch nicht viel zu berichten gab. »Lieber Schnuckiputzi …« Dann schrieb ich noch an Bayern München, daß ich gern Autogramme von den Spielern hätte, und ich legte ein Mannschaftsposter aus dem Kicker und als Rückporto achtzig Pfennig in Briefmarken bei. Säbener Str. 51, 8 München 90. Die Adresse stand im Kicker-Almanach. Das Poster war von 1974, aufgenommen nach Bayerns Sieg im Europapokal der Landesmeister. Sowas durfte man sich ja wohl auch als Fan von Gladbach an die Wand pinnen, erst recht mit echten Autogrammzügen.
Der nächste Briefkasten hing in der Jahnstraße beim Stadion. Da lungerten zwei Halbstarke rum. Als ich die Briefe eingeworfen hatte, kam der eine von den beiden Typen angeschlendert und schubste mich ins Gebüsch.
Hatte der noch alle Tassen im Schrank?
Ich rappelte mich hoch und ging weiter, und schwubbs, schon lag ich wieder im Gebüsch, ohne daß ich dem Deppen irgendwas getan hätte. Nicht mal schief angekuckt hatte ich den. Weil ich keine Lust hatte, mich noch einmal schubsen oder gar verdreschen zu lassen, womöglich von den beiden Arschgeigen gemeinsam, sprang ich auf die Beine und rannte weg, und der eine von den Typen rief mir hinterher: