Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Bei uns ist’s stickig heiß. Ins Schwimmbad kann man nicht gehen, das ist viel zu voll. Genausogut könnte man mit zehn Mann in eine Telefonzelle steigen. Also hab ich in den letzten Tagen nichts anderes getan als gelesen und gefernseht. Lesen wäre ja ’ne gute Beschäftigung, aber jetzt lese ich alle Bücher schon zum dritten Mal. (Auch die Fernsehsendungen habe ich schon mindestens einmal gesehen.) Da ist die Schule ja direkt ’ne kleine Abwechslung. Zwar keine der schönsten, aber was soll man machen?

       Mit Ottokar Trebitsch ist auch nichts los. Der wird bloß von Tag zu Tag fetter und unförmiger.

      Den Trebitsch, der auf dem Mallendarer Berg wohnte, hatte ich mal im Verdacht gehabt, daß er kriminell sei, weil er einen Kontoauszug zerfetzt und weggeworfen hatte. Meine Hoffnung, diesen Fall als neuer Kalle Blomquist aufzuklären, hatte sich jedoch zerschlagen.

       Der blöde Kerl könnte wenigstens mal einen saftigen Bankraub veranstalten oder ein flottes Kidnapping. Aber nein, das fette Schwein läuft bloß dauernd in der Kaiser-Friedrich-Höhe herum und entwickelt sich mehr und mehr zu einem ganz normalen Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

       Sag mal, wie sind wir eigentlich darauf gekommen, daß der irgendwas ausgefressen hat?

      Tja. Vielleicht hatten wir uns getäuscht. Das war von Meppen aus schwer zu beurteilen. In dem Umschlag steckte auch ein Brief von Michaels Bruder Holger:

       Hallo Martin, hallo Ilja, hallo Freunde!

       Wie Du sicher schon weißt, hat für uns am 1. August die Schule wieder angefangen. (Buhuuu!) Seitdem hab ich immer so ein komisches Gefühl im Magen. Es läßt sich leicht mit einem Wort definieren: Mordlust. Wenn Du irgendeine Zeitung aufschlägst, wirst Du lesen: »Mord in Koblenzer Schule! Kind war der Täter!«

       Wie Du Dir vielleicht schon gedacht hast, sitze ich jetzt, nämlich auf der Karthause. In einer Woche ist die Gerichtsverhandlung. Mal sehen, was da rauskommt.

       Aber jetzt mal zu was anderem: Vorgestern fuhr ich mit dem 1-Uhr-Bus nachhause. Michael war auch dabei. Wir hatten nach der vierten Stunde hitzefrei und mußten bei mindestens 35° im Schatten eine Stunde braten, bis, natürlich mit Verspätung, der Bus kam. Wir setzten uns vorne hin und hofften, daß der Busfahrer die Tür aufläßt. Leider tat er das nicht. (Dieser Schweinehund.) Kein Lüftchen regte sich, als wir am Zentralplatz ankamen. Der Bus war stinkevoll. (Schwitz-puuh.) Die Leute, die in Ehrenbreitstein standen, ließ der Busfahrer schon gar nicht mehr rein. Und fast alle, die im Bus saßen, wollten zum Schwimmbad. Hätten die nicht so viel Zeug mitgenommen, wäre der Bus bestimmt nicht so voll gewesen: 10 Liegen, 15 Kühltaschen, 7 Koffer, 138 Brötchen, 1 Lastauto, 14 Decken, 20 Flaschen Limo usw. Ein Weib mit Limoflaschen stellte sich genau neben den halbverdursteten Michael und mich. Die hat richtig arrogant mit den Flaschen rumgefuchtelt, die doofe Gans!

       Noch schlimmer wurde es in Urbar. Da wabbelte so ’ne alte Tante mit zwei Liegen und zwei Kindern am Arm in den Bus und wollte zum Schwimmbad. Der Fahrer verlangte 2.40 DM. Die Alte hatte aber nur 2.– DM in der Hand und kramte fast zehn Minuten lang in ihrer Tasche, bis sie ihren Geldbeutel fand. Dann fiel ihr 1.– DM hinunter. Der Busfahrer lief inzwischen rot an. Als sie ihr elendes 1-Mark-Stück nach einer halben Stunde aufgelesen hatte, fingen die kleinen Kinderlein an zu plärren. Die Mutter versuchte sie zu trösten. Als dies nichts half, putzte sie den Kleinen die Nase, wechselte ihnen die Unterwäsche, ließ alle beide aufs Töpfchen gehen, gab ihnen die Flasche und sang ihnen ein Schlaflied. Das wirkte! Sie waren still. Den Busfahrer hat man bis heute nicht gefunden, obwohl man den Grund des Rheins nach ihm abgesucht hat.

       Wie geht es im Fußballclub? Viel Spaß in der Schule. Komm bald mal vorbei und mach mal wieder eine richtige Tour mit uns. Denn seit Du nicht mehr da bist, hat Michael zu nichts mehr Lust.

       Tschüß, Dein Holger.

       P.S. Meine neue Adresse: Stadtgefängnis Karthause, 5400 Koblenz, Haderlumpenstr. 278.

      Da sah man doch, wie gut ich es in Meppen hatte. Hier durfte ich mit dem Rad zur Schule fahren und war nicht auf einen vollgepupten Omnibus angewiesen.

      Tante Dagmar schrieb mir, daß das Wetter in Hannover leider Gottes immer noch nicht hochsommerlich sei und daß sie Anfang September nach Italien reisen werde.

      Mama hatte einen Duschvorhang gekauft. Den hängte sie an Schlaufen an dem Gestänge über der Duschwanne auf. Als ich die Dusche abends ausprobierte, sauste mir der kalte Vorhang ans Hinterteil. Ob das am Luftdruck lag oder woran auch immer – sobald das heiße Wasser aus der Brause strömte, wehte der Duschvorhang nach innen, und er hörte damit erst auf, wenn man ihn von innen heiß abgeduscht hatte. Dann klebte er unten am Duschwannenrand fest und blähte sich bloß noch ein bißchen.

      Papa beanstandete, daß ich zu lange geduscht hätte. Duschen gehe so, daß man sich einmal kurz naßmache, sich dann ohne weitere Wasserzufuhr einseife und sich zuletzt rasch abdusche, am besten kalt. Alles andere sei Wasserverschwendung.

      So ging der letzte Sommerferientag zuende. Der einzige Trost bestand darin, daß am Samstag die neue Bundesligasaison anfing.

      »Deine Haare haben heute noch mit keinem Kamm Bekanntschaft geschlossen«, meckerte Mama beim Frühstück, das in großer Hektik stattfand, weil Wiebke ihre Brille nicht fand und Papa einen seiner Manschettenknöpfe vermißte.

      Wiebke kam auf die Paul-Gerhardt-Schule und Volker auf die Realschule Freiherr vom Stein, in die zehnte Klasse, als zurückgestellter Sitzenbleiber, und wir mußten alle auf Schusters Rappen hinter Mama herhecheln, die auf Renates Klapprad vorausfuhr.

      Als Wiebke und Volker in ihren neuen Schulen untergebracht worden waren, mußte ich Mama bis zum Kreisgymnasium nachwetzen.

      Im Sekretariat erkundigte sich Mama nach der Klasse, in die ich gehörte. Das war die 8b.

      Das Klassenzimmer war im Erdgeschoß, und alle anderen Schüler waren schon da.

      Mama stürmte hinein und suchte mir einen Sitzplatz aus: »Hierher, Martin! Da ist noch ’n Stuhl frei!«

      Neben einem Mädchen! O Gott. Aber was blieb mir übrig?

      Ich setzte mich da hin und hielt die Luft an.

      Als der Klassenlehrer aufkreuzte, unterhielt sich Mama mit dem noch eine Weile halblaut draußen vor der Tür. Dann kam er rein und rief: »Hallihallo, ihr Lieben!« Schlüter hieß der. So ’n kleiner Dicker mit Pläte und Hamsterbacken.

      Als Neuer sollte ich mal eben kurz nach vorne kommen und mich der Klassengemeinschaft vorstellen. Ach du Scheiße.

      »Sag uns doch mal, wie du heißt!«

      »Martin.«

      »Und wo bist du bisher zur Schule gegangen?«

      »In Koblenz.«

      »Ach, in Koblenz! Dann bist du ja eine rheinische Frohnatur!«

      Ob der mich vergackeiern wollte? Ich sagte lieber nichts dazu. Ich hoffte, daß der Krampf bald überstanden wäre, schon weil ich allmählich nicht mehr wußte, wo ich meine Hände hintun sollte. Zuerst hatte ich sie in die vorderen Hosentaschen gesteckt, dann in die hinteren und dann wieder in die vorderen.

      »Gut, Martin, du darfst dich jetzt setzen …«

      Das könne ja wohl nicht mit rechten Dingen zugehen, sagte Mama, als ich ihr meinen Stundenplan überreicht hatte. Nie mehr als vier Stunden, und selbst das nur an zwei Tagen, die restlichen Tage nur drei Stunden, zweimal in der Woche die erste frei und einmal die ersten beiden, und das beste: kein Physik, kein Chemie, kein Zeichnen, keine Musik, kein Bio und kein Erdkäs! Und nur zweimal in der Woche Englisch. In meinen Ohren war das Musik.

      Michael schrieb ich, daß die Mädchen in meiner Klasse alle wie Pferde aussähen, und das neben mir sitzende würde unentwegt häkeln und husten.

      Um Renate zum 19. Geburtstag einen Rückspiegel für ihr Klapprad schenken zu können, hatten