Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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und schon stiegen einem Tränen in die Augen.

      Im neuen Stern der Witz der Woche, schon zehnmal gelesen.

      Kataloge von Quelle, Neckermann, Bader und Schöpflin und die großformatigen Time-Life-Bücher, die Papa aus Amerika mitgebracht hatte. Über die Planeten, die Dinosaurier und die Ozeane. Die bunten Fotos waren ja noch gut, aber das englische Geschreibsel konnte auch Papa unmöglich alles gelesen haben.

      Was wir so für Bücher hatten. Der Spion, der aus der Kälte kam. Käuze, Schelme, Narren. Traumland Südwest: Tiere, Farmen, Diamanten. Peter Bamm und Jochen Klepper. Mümmelmann von Hermann Löns. Der Pate, Homo Faber und Bonjour Tristesse. Zerlesen waren nur die roten Krimis, die oben in der zweiten Reihe standen.

      Farbige Wohnfibel. Die sah ich mir spaßeshalber auch mal an. Unter dem Foto von einem kotzig eingerichteten Wohnzimmer stand da: Zur Braun-Skala der in Teak ausgeführten Schrankwand bilden das dunkelgrüne Karomuster des Fensterstoffes und das satte Laubgrün der Sesselbezüge einen natürlichen Gegensatz, der die Atmosphäre des Raumes auf angenehme Weise belebt. Den Mittelpunkt dieser naturnahen Konzeption bildet die geschliffene Kugeloptik der tiefhängenden Pendelleuchte über dem Tisch.

      Oje. Wie schwer es war, ein Haus zu bauen, hatte ich ja mitgekriegt, aber daß auch das Möbelreinstellen eine Wissenschaft war, hätte ich mir nicht träumen lassen.

      Ein anderes Buch hieß Mutter und Kind. Mit Farbtafeln: Brustdrüsenschwellungen, Schälblasen, Ekzeme, Furunkel, Abszesse, Wanzenstiche und Rachenraumkrankheiten. Die verschiedenen Säuglingsstühle: Frauenmilchstuhl, Flaschenmilchstuhl, Kindspech, Ruhrstuhl, durchfälliger Stuhl und Stuhl bei Milchnährschäden.

      Angina, Syphilis und Tripper. Wie eine Milchpumpe angelegt wird. Hohlwarzen und Flachwarzen.

      Die Geschlechtsorgane der Frau. Große und kleine Schamlippen, Kitzler und Harnröhre.

      Bei Licht betrachtet sah das alles nicht halb so schön aus wie in Mamas Zeichenunterrichtsbuch. Da waren massenhaft nackte Frauen zu sehen, und zwar auf den Seiten 20, 21, 31, 41, 44, 124, 136, 137, 138, 139, 144, 153, 159, 160, 164, 165, 166, 167, 168 und 169. Dann kam Animal Drawing.

      Nebenan in Papas Arbeitszimmer sah ich mir im Telefonbuch die Seite mit den Namen der Leute an, die Ficker hießen. Daß die sich nicht schämten: »Hier bei Ficker!« Und was deren Kinder erst zu erdulden hatten: »Hey, Ficker! Wie geht’s, Ficker?« Die Leute, die Fick, Fickel oder Fickelt hießen, hatten’s auch nicht viel besser.

      Für Besucher standen hier zwei Sessel, in denen nie jemand saß.

      Das Poster mit dem aufgespießten Mann hatte Papa irgendwann eingemottet. Neben einer Ansicht von Königsberg und der Karte von New York hingen die gerahmten Fotos von Papas Eltern an der Wand. Opa Schlosser war Pfarrer gewesen und schon vor meiner Geburt gestorben. Der schwarze Opa. Bei dem hätte ich auch nicht gerne Katche gehabt, so wie der aussah. Ob der jetzt wohl aus dem Himmel auf mich runterkuckte?

      Eine hellbraune Tonne mit zusammengerollten Bauzeichnungen, der immer abgeschlossene Panzerschrank mit den schönen Loks und eine Geschoßhülse, die fast so hoch war wie der Schreibtisch und von Papa als Aschenbecher benutzt wurde.

      Aktenordner und Prospekte von Kibri, Märklin, Trix und Faller. Varianten des Bausatzes B 271 und Lokschuppen-Tormechanik mit Faller-Motoren.

      Agnes Miegel: Die Blume der Götter. Wolfsburg, die Volkswagenstadt. Der redliche Ostpreuße. Arzt und Helfer in Alaska. Synopse der drei ersten Evangelien. Bezaubernde Wildnis. Stuttgarter Jubiläums-Bibel. 1. Mose 38,9: Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sollte, wenn er einging zu seines Bruders Weib, ließ er’s auf die Erde fallen und verderbte es, auf daß er seinem Bruder nicht Samen gäbe. Untendrunter stand was Kleingedrucktes: Onan beging eine Sünde der Lieblosigkeit gegen seinen verstorbenen Bruder und zugleich einen Frevel gegen die göttliche Ordnung der Ehe. Von Onan hat die widernatürliche Sünde der Selbstbefleckung den Namen »Onanie«, die der Pestilenz gleicht, die im Finstern schleicht, und manches junge Leben schon vor dem Aufblühen vergiftet.

      1. Mose 38,10: Da gefiel dem HErrn übel, was er tat, und er tötete ihn auch.

      Todesstrafe fürs Wichsen, das waren ja prachtvolle Aussichten.

      Auf Papas Schreibtisch lag die Rechnung für den neuen Couchtisch. Kostenpunkt 250 Mark. Einrichtungshaus Wernecke, das Haus der guten Form.

      Quittungen und Millimeterpapier. Hinten in einer der Schubladen befand sich ein Beutel mit ausländischen Münzen. Lira, Öre, Dollar und Franken. Gesammelt hatte Papa auch Streichholzschachteln aus Italien, England, Frankreich und Amerika.

      Weiter unten waren Papas Schulzeugnisse versteckt. Englisch 5, Lateinisch 5, Lebenskunde 5. Nicht versetzt! Davon hatte man bis dato auch noch nichts gehört. Hatte man also einen Sitzenbleiber als Vater!

      Eine besondere Mappe hatte Papa für seine dienstliche Beurteilung angelegt: Faßt schnell und sicher auf. Überblickt schwierige Zusammenhänge bald. Sieht das Wesentliche, ist imstande, rasch Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Denkt beweglich, klar und logisch. Erkennt, worauf es ankommt. Schlosser ist ein sehr befähigter wissenschaftlicher Mitarbeiter, der sich trotz seiner Kriegsbeschädigung für die umfangreichen und komplizierten Aufgaben der Steuerungstechnik nicht nur voll, sondern weit über das normale Maß einsetzt und in ausschlaggebender Weise die vorliegenden Probleme des Referates mit eigener Initiative, persönlichem Einsatz und gutem Erfolg lösen konnte. Seine Leistungen, seine Fähigkeiten, seine Initiative und sein überdurchschnittlicher Fleiß rechtfertigen eine gute Beurteilung.

      Bloß alles heil wieder weglegen. Am Ende waren das noch Dienstgeheimnisse.

      Unten im Heizkeller drückte ich mich an dem großen Kessel vorbei zum Lichtschacht und machte das Fenster auf. Trick 17. Jetzt konnte ich immer ins Haus, auch wenn mal keiner da war und ich den Schlüssel vergessen hatte. Dann mußte ich zwar zwischen den Spinnen durch, die sich im Lichtschacht tummelten, aber das war eben nicht zu ändern.

      An der Leine in der Waschküche hingen zwei von Papas Unterhosen, jede einzelne so groß wie ein Dreimannzelt. Softlan, Perwoll, Pro Dixan und Persil, biologisch aktiv.

      Ich holte mir ein Spielzeugauto aus dem Hobbyraum und ließ es in der Garage auf der Werkbank zwischen Kombizangen und Bohrfutterschlüsseln Slalom fahren, bis ich genug davon hatte.

      Papas Bierkiste und sein altes Moped. Volker spitzte sich darauf, damit die Straßen unsicher zu machen, aber Papa hatte anderes zu tun, als das alte Moped zu reparieren. Was da allein in der Garage noch alles eingepackt werden mußte vor dem Umzug. Schraubenschränke mit winzigen Schublädchen, Moltofill und Moltoflott und säckeweise Flora-Torf. Ein Buch mit Ölflecken: Jetzt helfe ich mir selbst. Alles über den Peugeot 404. Ob Papa auch die Kotflügel vom ausgeschlachteten Käfer mit nach Meppen schleppen wollte? Mama würde sich bedanken.

      Ein staubiges Glas mit Stachelbeeren, eingemacht am Hochzeitstag. Die sollten zur Goldenen Hochzeit verschmaust werden.

      An der Wand ein Blechschild: Rauchen und offenes Feuer polizeilich verboten! Papa rauchte da aber trotzdem.

      Nach Zigarettenrauch roch es auch oben in Volkers Zimmer, so als ob der da heimlich gepafft hätte, obwohl er dazu auch auf den Balkon hätte gehen können, der Döskopp.

      Auf dem Schreibtisch lagen Raketenskizzen und ein Pausbild vom Archaeopteryx, dem ältesten Vogel der Welt.

      Der Mikroskopkoffer war mit der Zeit aus dem Leim gegangen. Im Schrank die Zahnspangenschachtel und eine Tüte mit dem Schädel von dem Hasen, den wir mal gegessen hatten.

      Karl May: Der Schut. Ein Tauchbuch von Hans Hass und Onkel Toms Hütte, mit dem Bild, wo Abraham Lincoln erschossen wird, im Theater.

      Unterm Bett der alte Flitzebogen, aber ohne Schnur, und an der Tür ein altes Plakat:

      W A N T E D

      FOR BANK ROBBERY, HORSE THIEVING, MURDER AND MOST OTHER MISERABLE ACTS

      AGAINST THE PEACE AND DIGNITY

      IN THE UNITED STATES:

      V O L K E R