Beim Spiel gegen Schalke führte Gladbach die Vorentscheidung über die Meisterschaft herbei. 0:1 Simonsen (35., Foulelfmeter), 0:2 Bonhof (40.), 1:2 Lütkebohmert (50.), 1:3 Heynckes (85.). Das war’s! Geschafft! Gladbach war Deutscher Meister! Daran konnte jetzt keiner mehr rütteln. Die beiden restlichen Spiele waren reine Routine.
Schon erstaunlich, daß alle Mannschaften, denen ich die Daumen drückte, sich die Siegestrophäen holten. Erst die Nationalmannschaft bei der WM, dann Gladbach im UEFA-Pokal, dann Bayern im Europapokal und jetzt Gladbach in der Bundesliga. Das konnte man ja wohl kaum noch als Zufall bezeichnen. Als ob ich ein Glücksbringer wäre.
Udo Lattek übernahm da wirklich eine schwere Hypothek als neuer Trainer, wenn er an Weisweilers Siegesserie anknüpfen wollte. Bis ich selbst die Mannschaft verstärken könnte, würde es ja noch das eine oder andere Jährchen dauern.
An ihrem Geburtstag schoß Wiebke wie ein geölter Blitz auf den Tisch mit den Geschenken los. Die hatte noch gar nicht gerafft, daß sie das alles hier vergessen konnte nach dem Umzug, auch ihre kuchenfressenden Freundinnen, mit denen sie am Nachmittag im Garten rumhopste.
Die Zeugnisse gab’s am Freitag, dem 13. Würg. Ich hatte fünf Zweien, eine Drei und vier Vieren, auch in Englisch, wo ich immer noch keine große Nummer war.
Für das Zeugnisgeld bestellte ich mir beim Tauschdienst die Bilder, die mir für mein Sammelalbum von Sprengel noch fehlten. Vier Mark achtzig hatte das Album gekostet, was verhältnismäßig billig war, aber wenn man das Geld für die Schokoladentafeln mit den Bildern dazurechnete, jede für neunzig Pfennig, war das vollgeklebte Album fast fünfundachtzig Mark wert.
Da hätte mal der Stern was drüber schreiben sollen, unter Wucher der Woche.
Am letzten Schultag den Ranzen in die Ecke zu bollern, darauf konnte man sich schon freuen. Michael Gerlach wollte in seinen Ranzen in den Ferien jedesmal reinfurzen, wenn er furzen mußte.
In Bremen schoß Jupp Heynckes zwei Tore und war damit Torschützenkönig. In der ewigen Liste führte aber immer noch Gerd Müller (281 Tore) vor Heynckes (175), Löhr (143) und Seeler (137). Irgendwann würde dann meine Wenigkeit kommen und aufholen. Da würde sich noch manch einer umkucken.
Abgestiegen waren der VfB Stuttgart, Tennis Borussia und der Wuppertaler SV. Wie beschissen sich die Leute jetzt wohl fühlten, die da wohnten.
Für die Nachbarsfrauen gab Mama einen Abschiedskaffee mit aufgetauter Tiefkühltorte auf der Terrasse und verdonnerte Volker und mich dazu, bloß ja keinen Radau zu veranstalten währenddessen.
Als erste kam Frau Rautenberg. Pünktlich wie die Weihnachtsgans. Weil alle Frauen Blumen mitbrachten, kam Mama kaum zur Besinnung vor lauter Gerenne und Vasengesuche.
Volker schoß mit Papas gutem Fotoapparat zwei Fotos, auf denen dann aber hauptsächlich Kniescheiben und Schienbeine zu sehen waren, und Mama hatte beide Male die Augen zu.
Mit Michael Gerlach war ich viel im Wambachtal. Das würde ich so bald nicht wiedersehen, wenn wir in Meppen wohnten.
Die Tür unserer alten Hütte war mit einem Vorhängeschloß abgesperrt, das wir nicht knacken konnten, und im Wyoming suchten wir noch einmal gründlich nach dem schweinischen Buch, aber das war und blieb verschwunden.
Einmal wollten wir den Flug des Phoenix nachspielen, erst die Bruchlandung in der Wüste und dann das Rumschrauben am Wrack und das langsame Verdursten der Crew, aber als wir einen passenden Platz dafür gefunden hatten, fiel Michael ein, daß eine seiner Schwestern Geburtstag hatte.
Irgendwie machte das Rumstromern im Wambachtal und im Wyoming auch weniger Laune als früher. Als kleine Krötze hatten wir da Indianeraufstand am Wounded Knee gespielt und als Rothäute Bleichgesichter umgenietet. Darauf hatten wir keine Böcke mehr. Aber worauf sonst?
Papa war in Meppen, Mama beim Friseur, Renate an der Côte d’Azur, Volker im Schwimmbad und Wiebke nebenan bei Ute Rautenbergs Geburtstagsfeier.
Ich hatte sturmfreie Bude.
Unter Wiebkes Klappbett lagen Märchenpuzzleteile und ein Buch von Enid Blyton. Hanni und Nanni retten die Pferde. Kaum zu fassen, daß die Frau auch solchen Pipimädchenkram geschrieben hatte.
Links neben dem Schrank stand Mamas Nähmaschinenkoffer und rechts die Bügelmaschine. Wiebke war es scheint’s egal, was bei ihr alles untergestellt wurde, dabei hatte sie das kleinste Zimmer von allen.
Auf dem Schrank rotteten zwei ausgetrocknete Filzstifte ohne Kappen rum, der Hase Mumpe, ein Zeichenblock mit welligen Blättern, eine Häkelnadel und ein Hausaufgabenheft: Auf dem Schlitten sitzen, bergab zu flitzen auf singenden Kufen mit Schreien und Rufen im Sonnenschein, das ist fein! Frau Katzer hatte Figuren zum Ausmalen in das Heft gestempelt: Bambi, Strolchi, Micky Maus, Donald Duck und Pinocchio.
An der klemmenden Schreibtischschublade mußte ich lange ruckeln, aber die Mühe lohnte sich nicht. Am interessantesten war noch das Poesiealbum: Dies schrieb Dir Deine Patentarnte, die Dich vor bösen Taten warnte.
Im Elternschlafzimmer holte ich das Fernglas aus Papas Nachtschränkchen und beäugte durch die Gardine das Dach vom Walroß.
Papas Gürtel und Schlipse innen an der einen Schranktür und in Mamas Frisierkommode Triumphstrumpfhosen, Lockenwickler, Wattebäusche und Büstenhalter. Was Frauen so brauchten. Kölnisch Wasser, Nagellack, Haarnetze, Drei-Wetter-Taft, Gliss-Glanz-Tonic und Atrix-Glyzerin-Handcreme. In den Spiegelflügeln sah ich mir meinen Hinterkopf an.
Ihren Schmuck bewahrte Mama in einer Holzschatulle auf. Was die Klunker wohl wert waren. Tausend Mark oder noch mehr.
Im Flur das Putzmittelkabuff. Besen, Mop, Viledatücher und Scotch-Brite-Schwämme, bei denen man nie die scharfe Seite benutzen durfte. Wozu hatten die die überhaupt?
Ajax Glasrein, Rohrfrei, Imi, Tuklar und Dual. Weiter oben war ein Regal mit Glühbirnen. Alle von Osram. Der Typ war bestimmt Multimillionär geworden mit seiner Erfindung.
Im Badezimmer stellte ich mich auf die bespackerte Personenwaage neben dem Lokus. Angezogen wog ich fünfzig Kilo.
Papas Wilkinson-Klingen, dreifachveredelt, und Wiebkes stinkende Blendi-Zahnpasta mit dem Hamster auf der Tube.
Der Medizinschrank. Togal, Doppel-Spalt, Neo-angin, Contac 700, Cebion und Novalgin-Dragees, die außen wie Smarties schmeckten. Vier davon lutschte ich ab, spuckte das bittere Innere ins Glas zurück und ging in die Küche.
An was man als Erwachsener alles denken mußte beim Einkaufen: Pfanni, Palmolive, Coin, Calgonit, Backin, Vanillin und Palmin. Mit Butter würden nur die Großkopfeten braten, hatte Papa mal gesagt. Schon die Namen alle: Mondamin, Mazola, Fissler und Biskin.
Aurora mit dem Sonnenstern.
Ich nahm mir eine Scheibe Kochschinken aus der runden Wurstdose im Kühlschrank, die nie zuging, weil der Deckel so verbogen war.
Schränke aufmachen. Teebeutel, Reis und Tortenguß. Was war nochmal der Unterschied zwischen Rosinen, Sultaninen und Korinthen? Und der Eierschneider. Pling, plang, ploing. Gitarre konnte ich immer noch nicht spielen.
In die eine Kraßelschublade flog alles rein, was zum Wegschmeißen zu schade war. Halbe Kulihülsen, Bleistiftstummel, Gummibänder, Fahrradschlüssel, die stumpfe Küchenschere, ein angesengter Topflappen mit aufgedrucktem Zwiebelsuppenrezept und die kaputte grüne Taschenlampe, aber auch Kleingeld.
Fürs Wohnzimmer hatte Mama erst vor kurzem drei weiße Kugellampenschirme angeschafft. Der mit bunten Kügelchen beklebte Holznapf, der an der Wand hing, war ein Mitbringsel von Mamas Freundin aus Venezuela. Ob die da wirklich ihren Brei aus solchen Näpfen aßen?
Untendrunter der Thermostat. Mit dem unscheinbaren Dings hatte man die Heizungen im ganzen Haus unter Kontrolle. Wie das funktionierte, würde ich nie kapieren. Ein Rätsel war auch, wieso man in den beiden lackierten Muscheln das Meer rauschen hören konnte. Ob das dadrin auch rauschte, wenn man sie nicht ans Ohr hielt?
Auf der Fensterbank