Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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unten war beim Halten vor der Ampel am Max von Laue ein graues, breitgefahrenes Stück Kaugummi zu sehen. Diese grauweißen Sprenkel sah man jedesmal, wenn der Bus anhielt. Alle Straßen waren mit Kaugummis vollgerotzt. Ich wollte mir die Muster einprägen und ab jetzt jeden Tag hinten im Bus vor der Tür sitzen und angesichts der Sprenkelmuster feststellen, wo wir waren. Dann müßte man mir nur irgendeinen Quadratzentimeter der gesamten Busstrecke von Koblenz bis zum Mallendarer Berg zeigen, und ich könnte wie aus der Pistole geschossen sagen: »Das ist eine Stelle sechs Meter vor der Kreuzung in Urbar.« Vom Kucken durch die Ritze wurde mir aber schon in Ehrenbreitstein übel, und ich gab den ganzen Plan wieder auf.

      Das Schlagerspiel gegen Gladbach gewann Hertha BSC mit 2:1, vor 91000 Zuschauern, was Bundesligarekord war.

      Die Tabellenspitze sah jetzt folgendermaßen aus:

1. Gladbach 38–18
2. Köln 36–20
3. Hertha 36–20
4. Offenbach 35–21
5. HSV 34–22

      Sepp Maier war an dem Wochenende zum 300. Mal hintereinander Torhüter in der Bundesliga gewesen, und Renate rechnete aus, daß sie seit genau 700 Tagen mit Olaf zusammen war.

      Auf die Anzeige in der Rhein-Zeitung antworteten zwei Ärzte, ein Landforstmeister, ein Oberbergrat, ein Diplomphysiker, ein Rechtsanwalt, ein Ehepaar und diverse Makler: Sehr geehrter Inserent, für das obige von Ihnen inserierte Objekt habe ich verschiedene ernsthafte Interessenten vorgemerkt. In Erwartung Ihrer geschätzten Rückäußerung verbleibe ich mit freundlichen Grüßen.

      Im Rückspiel kriegte Köln von Gladbach wieder was aufs Haupt. 1:0 Danner (48.). Dank der Tore von Beckenbauer (2.) und Dürnberger (69.) konnte dann auch St. Etienne einpacken. Ich hätte nicht viel Lust gehabt, woanders als in Deutschland Fußballfan zu sein, außer in Brasilien.

      Zum Geburtstag sollte ich eine neue Hose kriegen, und Mama fuhr mit mir nach Koblenz.

      Von einem Geschäft ins nächste. In den Kabinen mußte ich mich immer irre beeilen, fast wie Speedy Gonzales.

      »Bist du jetzt bald fertig dadrin?«

      Wie lange man als Junge brauchte, konnte Mama sich nicht vorstellen, weil sie Röcke trug und Schuhe ohne Schnürsenkel anhatte. Ich mußte immer erst die Senkel aufknoten, die Gürtelschnalle öffnen und die alte Hose ausziehen, bevor ich in die neue steigen konnte, und meistens riß Mama den Vorhang schon zur Seite, wenn ich im Schlüpfer dastand.

      Dann sollte ich auch noch dankbar sein für die neue Hose, und weil ich das nicht war, redete Mama auf der ganzen Rückfahrt kein Wort mit mir.

      Zuhause war ein Blauer Brief in der Post. Meine Leistungen in Englisch seien unter ausreichend gesunken, und Papa wurde empfohlen, mit dem Englischlehrer Rücksprache zu halten.

      »Jetzt wirst du an die Kandare genommen«, sagte Mama, und ich kriegte eine Woche Fernsehverbot.

      Gottlob war Netzer wieder aufgestellt worden bei dem wichtigen Länderspiel in Sofia gegen Bulgarien, aber idiotischerweise nicht Dietz, und es wunderte mich kein bißchen, daß nur ein Unentschieden rauskam. 1:0 Kolev (71., Foulelfmeter), 1:1 Ritschel (75., Foulelfmeter). In der 34. Minute war Hölzenbein für den verletzten Heynckes eingewechselt worden.

      Dreizehn Jahre hatte ich jetzt auf dem Buckel. Mein letzter Geburtstag in Vallendar. Ich kriegte Geld wie Heu, eine LP von Reinhard Mey, die Bücher Huckleberry Finn und Rätsel um den unterirdischen Gang, eine Unterhose mit blauen Punkten und einen Pulli. Paßte wie angegossen.

      Eingeladen hatte ich bloß Michael und Holger Gerlach. Wir spielten Boccia im Garten, aber eine rote und zwei gelbe Kugeln waren leck und rollten nicht mehr gut.

      Mama brachte uns ein Backblech raus mit Streuselkuchen.

      Einmal klingelte das Telefon, und Volker brüllte mir zu: »Dein Typ wird verlangt!«

      Wenn das jetzt Piroschka gewesen wäre. Es war aber nur Tante Dagmar. »Na, wie fühlt man sich denn so als Dreizehnjähriger?«

      Von meinem Geburtstagsgeld wollte ich mir in Koblenz Hanteln kaufen, aber zwei waren mir zu teuer, und ich kaufte nur eine. Die war auch schon schwer genug zu schleppen. Mein Ranzen hatte hinterher eine Delle unten, die nicht mehr wieder rausging.

      Die Hantel war aus rotem Gummi oder Plastik und mit irgendwas Schwerem gefüllt, mit Blei oder Beton.

      Ich trainierte jeden Tag. Im Liegen die Hantel am ausgestreckten Arm vom Boden aufheben und hochstemmen oder im Stehen zwanzigmal nacheinander erst mit links und dann mit rechts vom Oberschenkel bis unters Kinn heben und dann hochstoßen, bis der Arm durchgestreckt war. Die würden sich noch wundern in meiner Klasse, wenn ich da ankäme mit Muskeln wie so ’n Gorilla.

      Als Buch war Huckleberry Finn einsame Spitze, aber wieder anders als im Fernsehen. Da hatten Tom und Huck Muff Potter aus dem Gefängnis befreit, und in dem Buch befreiten sie den Nigger Jim. Man wußte nicht, was richtig war, Serie oder Buch. Genau wie bei Robinson Crusoe. Immer kriegte man verschiedene Schlüsse zu lesen.

      Im Kicker stand, daß Heynckes möglicherweise wochenlang ausfallen werde wegen der Oberschenkelzerrung im Länderspiel. Ausgerechnet jetzt, wo die Meisterschale zum Greifen nah war, ganz zu schweigen vom UEFA-Pokal!

      Von meinem Blauen Brief war nicht mehr soviel die Rede, seit Renate ihre schriftlichen Abiturnoten nachhause gebracht hatte: Deutsch 3, Englisch 2, Mathe 3, Physik 4.

      Das sei auch nicht gerade berühmt, sagte Mama.

      Die hätte mal den Zylke als Sohn haben sollen. Das war einer aus meiner Klasse, der nichts als Fünfen und Sechsen schrieb. Seine Arbeiten kriegte der Zylke immer als letzter zurück, weil er der letzte im Alphabet war, und dann hatte er auch noch jedesmal die schlechteste Note. Darauf freute sich schon die ganze Klasse. In Erde hatte der Pauker dem Zylke seine Arbeit einmal mit den Worten »Zylke, Kommentar überflüssig!« vom Pult aus quer durchs Klassenzimmer zugeworfen, und dann hatte der Zylke noch unter der Bank seinen Schwanz rumgezeigt.

      Gegen den VfB Stuttgart hatte Gladbach leichtes Spiel. 1:0 Jensen (3.), 2:0 Danner (38.), 3:0 Kulik (53.), 4:0 Bonhof (60.), 5:0 Danner (69.), 5:1 Hadewicz (79.).

      Neuer Tabellenstand:

1. Mönchengladbach 40–18
2. Hertha 38–20
3. Kickers Offenbach 37–21
4. Köln 36–22

      Das war der Spieltag, an dem Uwe Kliemann (genannt »der Funkturm«) den verletzten Hertha-Kapitän Luggi Müller auf den Armen vom Platz trug. Ich schnitt am Montag das Foto davon aus der Rhein-Zeitung aus und klebte es in mein Bundesligaringbuch, sowohl mit Uhu (hintendrauf) als auch mit Tesa (an den Seiten). Doppelt gemoppelt hält besser.

      Als Oma Schlosser zu Besuch war, wollte ich ihr das Ringbuch vorführen, aber sie klappte es gleich wieder zu und redete vom Klavierspielen. »Übst du denn auch fleißig?«

      Wegen Oma durfte ich am Dienstag Balduin, der Geldschrankknacker nicht kucken, und das erste Endspiel um den UEFA-Pokal zwischen Gladbach und Twente Enschede konnte ich bloß am Radio verfolgen, weil Oma im Wohnzimmer beim Stopfen und Nähen nicht gestört werden wollte durch die ewige Flimmerkiste.

      Wenn