Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Dem Trebitsch war noch immer nichts nachzuweisen. Ich ging da schon gar nicht mehr hin. Michael Gerlach war in den Ferien bei seiner Oma in Ransbach-Baumbach, und alleine machte das Detektivspielen keinen Spaß.

      Beim Zähneputzen mußte ich wieder niesen, und da flog das Stück Anis aus meinem linken Nasenloch ins Waschbecken.

      Wie ein Schneekönig gefreut hatte ich mich auf Tschitti Tschitti Bäng Bäng im Zweiten, aber das war ein einziger Krampf. Da wurde bis zum Erbrechen getanzt und gesungen. Ich wartete immer auf das Stoßmich-Ziehdich, bis mir aufging, daß das in Doktor Dolittle vorkam und nicht in Tschitti Tschitti Bäng Bäng.

      An Silvester wurde abends das Fondue in Betrieb gesetzt. Man mußte aufgespießtes Schweinegulasch im Öl schmurgeln lassen und sich an der Farbe merken, welche Gabel einem gehörte.

      Bis zum Neujahrstag 2000 war es noch ein Vierteljahrhundert hin. Ich wäre dann 37 Jahre alt. Wiebke wäre 33, Volker 40, Renate 43, Mama 70 und Papa 72.

      »Hör bloß auf«, sagte Mama. »Und lümmel dich nicht so hin!«

      Um zehn Uhr zündete Papa die Feuerzangenbowle an, die aus Gläsern mit Bastkörbchen getrunken wurde, damit man sich nicht die Finger verbrannte. Für Wiebke und mich hatte Mama Fanta gekauft, aber ich durfte mal nippen an Mamas Glas.

      Zu essen gab es auch noch wieder was, nämlich erstens Berliner, zweitens Xox und drittens Weintrauben und Käse von bunten Spießchen mit spitzem Ende, das einem in die Lippen schnitt, wenn man beim Abfressen nicht aufpaßte.

      Im Fernsehen kam Fußballett. Und Vicky Leandros: Steh auf, du faules Murmeltier, bevor ich die Geduld verlier! Dabei sah die selbst wie am Einpennen aus mit ihren Schlafzimmeraugen.

      Mama und Papa pichelten, bis sie beide einen in der Krone hatten. Sie fütterten sich gegenseitig mit Erfrischungsstäbchen und schmusten und tanzten sogar. Auch Renate goß sich großzügig Bowle hinter die Binde.

      Wie es früher in Moorwarfen gewesen war und dann im Funkhaus Hannover. Zu ihrem Chef sollte eine von Mamas Kolleginnen, als der sich im Nacken gekratzt hatte, gesagt haben: »Waschen, nicht kratzen!«

      Um Mitternacht stießen wir mit Rülpswasser an und gingen auf die Terrasse, das Feuerwerk ankucken. Papa ließ vom Komposthaufen aus eine Rakete steigen, die nur einmal kurz jaulte. Das Walroß verböllerte dagegen nach Volkers Schätzung an die dreihundert Tonnen TNT.

      »Die haben’s wohl dicke«, sagte Mama, und dann wollte sie raus aus der sibirischen Kälte und zurück ins Haus.

      Renate hatte einen intus. Im Wohnzimmer wurde noch ein Foto von ihr gemacht beim Tanzen mit Papiergeschlinge um den Hals. Nach dem neuen Gesetz war Renate seit Mitternacht volljährig, und das wollte sie feiern. Von dem Sekt hatte auch Volker einen im Tee, und Papa hatte einen Hickkopp, der selbst mit kopfüber getrunkenem Wasser und mit Luftanhalten nicht wegging. Noch spätnachts konnte ich Papa zwei Zimmer weiter hicksen hören.

      1975 war das Jahr der Frau, aber bei uns war alles wie gehabt. Mama kochte Makkaroni, Wiebke übte Blockflöte, und Renate machte mit Edelstahlputzmittel das Fondue sauber. Dann häkelte sie an ihrer neuen Stola weiter, bei einem Piratenfilm. Der rote Korsar mit Burt Lancaster. Der konnte Flickflack rückwärts. Die Piraten hatten Musketen und Kanonen, aßen mit den Händen und legten die Füße auf den Tisch, aber ich wollte trotzdem lieber Europas Fußballer des Jahres werden als Pirat in der Karibik.

      Bevor Onkel Dietrich zu Besuch kam, mit Tante Jutta und allen drei Kindern, mußten Volker und ich in der Waschküche unsere Schuhe putzen. Immer die gleiche Leier. Jahraus, jahrein. In den Erdaldosen lagen bloß noch harte, bröckelige Reste. Damit wir die Bürsten nicht mehr verwechselten, hatte Papa die Stiele beschriftet: Dunkelbraun, Hellbraun, Schwarz. Wenn man jetzt mit der Bürste für schwarze Schuhcreme die hellbraunen Halbschuhe putzte, weil die passende Bürste nicht frei war, konnte man was erleben. »Wie oft soll ich dir das noch einbleuen?«

      Bürsten mit weißen Borsten bürsten besser, als Bürsten mit schwarzen Borsten bürsten.

      Der Kicker meldete, daß Ernst Cramer neuer Trainer von Bayern München werden sollte. »Der laufende Meter«, so nannte Sepp Maier den. Für Gladbach war es nur von Vorteil, wenn die Bayern so einen kahlköpfigen Winzling als Trainer hatten. Dann war der Titelgewinn geritzt.

      Renate brachte Fotos von der Weihnachtsfeier beim Vogel mit. Ich sah unvorstellbar Scheiße aus, wie die Wurst in der Pelle in meinem braungeringelten Pulli, mit gespreizten Spinnenfingern beim Oktavengreifen und mit Schamesröte im Gesicht.

      Mama klebte das Foto trotzdem in mein Album: »Später wirst du mir nochmal dankbar sein dafür.«

      In Chemie wurden hektographierte DIN-A4-Blätter rumgereicht, mit lilaner Schrift, die nach Putzmittelschrank stanken. Worin unterscheiden sich Elementmoleküle von Verbindungsmolekülen? Wie kann man Bleichlorid in die Elemente Blei und Chlor zerlegen? Was benutzt man als Reagens auf Kohlendioxid?

      Farbkreis und Zirkeltraining. Schule war was für Gehirnamputierte.

      Für meinen Besuch bei Axel Jochimsen gab Mama mir eine Packung After Eight für Axels Mutter mit, was mir peinlich war. After, lat. Anus, die Öffnung des Mastdarms, stand in Renates Volksbrockhaus, aber Axels Eltern waren fast noch größere Ferkel als Axel und rissen über alles, was man sagte, einen säuischen Witz. Für Deutsch hatten wir ein Gedicht auswendig lernen sollen, und Axel deklamierte das im Wohnzimmer: »So ging es viel Jahre, bis lobesam Herr von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam. Er fühlte sein Ende. ’s war Herbsteszeit«, und weiter kam er nicht, weil sein Vater dazwischenrief: »Er fühlte sein Ende? Wassen das für ’n Schweinigel?«

      Auf dem Dachboden schossen wir mit Axels Luftgewehr auf Papierscheiben. Ganz schön schwer, so ein Schießprügel, wenn man den halten mußte.

      Von seiner Mutter wurde Axel immer dazu aufgefordert, mir seinen bunten Teller hinzuhalten. »Anbieten, Axel, anbieten!« Axels Eltern unterhielten sich dann über irgendeinen Zuhälter, den sie nicht leiden konnten. »Zuhälter, pah«, sagte Axels Vater, »das einzige, was der zuhält, ist sein Portemonnaie!« Und als wir schlafen gingen, rief er zum Abschied: »Macht’s gut, ihr zwei, aber nicht zu oft!«

      Als Brotaufstrich gab es morgens Flora-Soft, und weil Axel und seine Eltern katholisch waren, stand bei denen noch immer das Kreidegeschmier vom Tag der Heiligen Drei Könige an der Tür. 19+M+C+B+74. Das gehörte so zu den Sitten der Katholiken.

      Das Geld, das ich von Weihnachten übrig hatte, reichte für eine Single. Freddy Quinn: Michael und Robert. Das waren zwei Legionäre. Doch keiner weiß, wo sie geblieben sind, und über der Wüste, da weht der Wind! Wenn ich meine Singles hören wollte, mußte ich immer erst Renate fragen, weil bei der der Plattenspieler stand.

      Zum 16. Geburtstag kriegte Volker von Oma Schlosser ein Taschenbuch über Albert Schweitzer und von Onkel Walter zwanzig Mark: »Was sehen meine entzündeten Augen!«

      Bei Quelle kaufte Volker sich einen Expander mit vier gelbroten Strängen, zur Kräftigung der Oberarmmuskulatur. Bizeps und Trizeps.

      Die Bedankemichbriefe tippte Volker im Zwei-Finger-Adler-Suchsystem auf Mamas Schreibmaschine.

      Aus Jux und Dollerei hatte Mama ein Karnevalslied verfaßt und es der Narrenzunft Gelb-Rot e.V. geschickt und dazugeschrieben, daß sie als Verfasserin nicht genannt zu werden wünsche. Das Lied sollte dann öffentlich gesungen werden, bei einer Prunksitzung in der Rhein-Mosel-Halle. Als Honorar hatte Mama zwei Ehrenkarten gekriegt, und ich durfte mit, weil sonst keiner Lust dazu hatte, auch Papa nicht.

      Die Reden und die Schrummtata-Musik fand Mama ziemlich primitiv, aber wir waren nur gekommen, um ihr Lied zu hören, und nach fast zwei Stunden kam es endlich an die Reihe: Am Deutschen Eck herrscht Fröhlichkeit, da wird so gern gelacht, das hat man schon zur Römerzeit gerade so gemacht! Wo kann es so romantisch sein und dennoch so modern? Wo hat man Rhein- und Moselwein in froher Runde gern? In Kowelenz, in Kowelenz, da möcht’ ich immer bleiben, die Stadt, die hat, die hat sowas, das kann man nicht beschreiben! Und allzumal