Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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ich ein Findelkind war? Von Vater und Mutter im Stich gelassen? Sehr viel Ähnlichkeit hatte ich ja eigentlich nicht mit Mama und Papa.

      Ich sollte mich entschuldigen, in aller Form, sagte Mama, sonst würde ich kein einziges Geschenk zu Weihnachten kriegen. Da kannst du warten, bis du schwarz wirst, dachte ich, aber als Weihnachten näherrückte, dachte ich anders darüber.

      Wenn ich doch bloß die Schnauze gehalten hätte! Oder an den Hut stecken gesagt hätte statt ins Arschloch.

      Am 6. Dezember wühlte ich meinen Nikolausstiefel nach einem Fünfmarkstück durch, aber es war keins drin. Nur Wiebke rannte noch aufgeregt hin und her und zeigte allen vor, was ihr der Nikolaus gebracht hatte.

      Entschuldigen mußte ich mich noch. Wenn ich das Rennrad nicht bekommen konnte, wollte ich eine Gitarre haben, aber auch dieser Wunsch wurde von Mama als Firlefanz abgetan. Ihre alte Gitarre sei noch gut genug zum Üben. Dabei hatte die einen Sprung hintendrin im Holz und nur noch drei heile Saiten.

      Zwei Jahre Ferien, dazu hätte ich jetzt Lust gehabt, wie in dem ZDF-Vierteiler. Mit einem Schoner in See stechen und an einer fremden Küste Schiffbruch erleiden. Oder mit John Wayne zehntausend Rinder nach Missouri treiben, und nachts hört man die Kojoten jaulen.

      Im Kicker fing ein Grabowski-Starschnitt an. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir auch ein Heft, das 97 Tore hieß. Da wurden alle Tore der WM zeichnerisch analysiert, wer wen vorher angespielt hatte, aber die Zeichnungen stimmten hinten und vorne nicht, das war nackter Betrug.

      In Saragossa kam Gladbach wieder eine Runde weiter. 1:0 Violetta (11.), 1:1 Simonsen (18.), 1:2 Heynckes (21.), 2:2 Galdos (63.), 2:3 Stielike (75.), 2:4 Heynckes (90.). Hoffentlich wollten die mich noch haben, wenn die schon ohne mich so gut waren!

      Beim Vogel durfte ich an der Weihnachtsfeier für die Großen teilnehmen. Da mußten alle was vorspielen. Ich hatte tagelang den Türkischen Marsch geübt, aber als ich dran war, wurde ich puterrot und konnte die Oktaven nicht mehr greifen. Da war der Wurm drin.

      Es gab Kaffee und Lebkuchen, und auf dem Tisch brannten übelriechende Honigwachskerzen.

      Gladbach schlug zuhause Bremen 4:2, dann war wieder Länderspiel, gegen Malta. Bernard Dietz durfte spielen, aber der Platz war hart und staubig.

      Nigbur im Tor, Kostedde und Pirrung im Sturm. Für den verletzten Schwarzenbeck war Körbel aufgestellt worden. In der zweiten Halbzeit kamen noch zwei weitere Debütanten, Nickel (46.) für Pirrung und Seliger (74.) für Cullmann. Den Siegtreffer hatte Bernd Cullmann in der 44. Minute erzielt.

      Kommet, ihr Hirten übte Wiebke auf der Blockflöte, und ich übte O du fröhliche auf dem Klavier. Christ ist erschienen, uns zu versühnen. Was das wohl heißen sollte, versühnen?

      Einmal setzte sich auch Papa ans Klavier und spielte was: Tochter Zion, freue dich. Papa am Klavier, das war eine Premiere. Ich hatte nicht mal gewußt, daß Papa Noten lesen konnte.

      Gnadenbringende Weihnachtszeit.

      Allerneueste Mode waren Gutscheine. Von mir kriegte Wiebke einen für ein Legohaus für ihre Puppe, Mama einen für zweimal Staubsaugen im Hobbyraum und Papa einen für dreimal Unkrautrupfen, und Volker überreichte mir einen für den nächsten geangelten Aal.

      Eine andere neue Mode war, daß wir beim Baumschmücken mithelfen durften. Früher hatten wir den Christbaum vor der Bescherung nicht einmal schief ankucken dürfen, und jetzt sollten wir Kerzenhalter anbringen und Lametta über die Äste legen. Die empfindlichen Kugeln durfte aber nur Papa aufhängen.

      Den Kirchgang ließen wir sausen.

      Papa hatte den Fotoapparat aufs Stativ gesteckt und knipste uns mit Blitz beim Singen in der Tür, aber das Foto konnte man nachher niemandem zeigen. Volker hatte seinen viel zu klein gewordenen Konfirmationsanzug an, bei mir sah man die abstehenden Ohren zwischen den Haaren, und Wiebke, die auf der Blockflöte trötete, machte auch keinen besseren Eindruck mit ihrem rosanen Kleid und der knallgelben Strumpfhose. Nur Mama und Renate sahen halbwegs normal aus.

      Im stillen hatte ich gehofft, doch noch das Rennrad oder die Gitarre zu kriegen, aber mein Hauptgeschenk war ein neuer Ranzen aus grünem Leder mit goldener Schnalle. »Behandele den pfleglich«, sagte Mama und kuckte den Ranzen so an, daß man ahnen konnte, wie teuer der gewesen war. Nicht so teuer wie das Rennrad, aber teuer genug, und ich mußte so tun, als ob ich mich wer weiß wie darüber freute, wenn ich mir keinen neuen Ärger einhandeln wollte.

      Tante Therese hatte mir einen Slip zugedacht. Beim Befühlen von Tante Dagmars Päckchen hatte ich Angst, daß da auch nur Anziehscheiß drin sei, aber dann war eine blaue Umhängetasche drin mit dem Kicker-Kalender ’75, einem Portemonnaie, zehn Mark, einer Tafel Schokolade und einem Buch von Enid Blyton: Rätsel um das verlassene Haus. Nicht schlecht, Herr Specht!

      Volker hatte einen elektronischen Taschenrechner gekriegt und Geld für seinen heiß ersehnten Mopedführerschein. Wenn er den besaß, sollte Papas altes Moped repariert werden, das im Heizungskeller stand.

      Renate legte als Gedächtnisstütze eine Liste an, von wem sie was gekriegt hatte. Nußknacker, Kalender, Blitzgerät, Schere, Wollkorb, Tuch, Kerzen, Bleistiftständer, Geld, und dazu die Namen. Der Nußknacker war aus Holz und wie eine dicke Pfeife geformt. Die Nüsse wurden in den Kopf gelegt und dann mit dem Stiel kaputtgeschraubt, aber das ging nur mit Walnüssen. Haselnüsse flutschten immer weg, und Paranüsse waren viel zu robust für den Holznußknacker.

      Am ärmsten war wieder Wiebke dran mit Malkasten, Mäppchen, Füller, zwei Rundstricknadeln und dem saudoofen Spiel Reversi. Da mußte man auf einem Brett grüne und rote Plättchen auslegen, was ungefähr so unterhaltsam war wie Mühle.

      Von Papa hatte Mama einen Römertopf geschonken gekrochen bekommen, einen neuen Couchtisch als Ersatz für den alten Kurbeltisch, eine Staffelei und ein illustriertes Buch dazu: The Complete Book Of Drawing And Painting. »Mein lieber Scholli«, sagte Mama. Sie hatte für Papa auch ein Buch gekauft: Farbe und Verhalten im Tierreich.

      Alle Jahre wieder. Oma Jever hatte einen Christstollen geschickt, mit Anis. Auf meinem bunten Teller lagen eine Toblerone und ein Bounty. Die Toblerone schmeckte gut, aber das Bounty weniger, weil da Kokos drin war. Als Wiebke und ich zufällig mal alleine im Wohnzimmer waren, bot ich ihr mein angebissenes Bounty für ihr unangebissenes Nuts an, und sie ging auf den Tauschhandel ein.

      Steht auch dir zur Seite, still und unerkannt, daß es treu dich leite an der lieben Hand.

      Aus der Werkstatt kam Papa mit einem Riesenadventskranz hoch, den er da heimlich gebastelt hatte.

      Ein Wort mit drei tezett: Atzventzkrantz.

      Das Ding war so groß wie ein Elefantenklo und wurde in der Diele aufgehängt, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Dann sollte Renate den Kranz mit den vier brennenden Kerzen fotografieren, nach Papas Anweisungen und aus allen möglichen Himmelsrichtungen, von oben, von der Seite, von der Treppe aus, von schräg rechts und von links und von der Garderobe aus. Als Papa sich im Flur auf den Rücken legte, um von unten einen guten Fotografierwinkel zu finden, wurde Mama böse, und es gab einen Krach, der damit endete, daß Papa die Garagentür hinter sich zuknallte und Mama die vom Elternschlafzimmer, aber dann kam Mama nochmal raus und holte das Schulterfleisch aus der Tiefkühltruhe.

      Am ersten Weihnachtsfeiertag war der Tisch bereits seit einer Stunde gedeckt, aber das Schulterfleisch war immer noch nicht gar. »Wir haben Hunger, Hunger, Hunger«, sangen Volker und ich und hauten mit dem Besteck auf den Eßtisch, bis Mama rief, daß wir die Backe halten sollten.

      Beim Teetrinken glättete und faltete Mama das Geschenkpapier, und Renate strickte an einem Pullover mit Sonnenmotiv für ihren geliebten Olaf. Der Topflappen, den Wiebke in Arbeit hatte, war krumm und schief.

      Einmal mußte ich gleichzeitig husten und niesen, und danach hing mir ein Stück Anis irgendwo innen zwischen Rachen und Nase fest, wovon mir das linke Auge tränte.

      Rätsel um das verlassene Haus war das erste Buch aus der