Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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nichts davon mitgekriegt.

      Den Kicker gab es zweimal die Woche, montags dick und bunt und donnerstags dünn und schwarzweiß und ohne Heftklammern, aber mit einer Seite, wo man die neuesten Ergebnisse der Bundesliga eintragen konnte.

      Alles über die nächste Runde.

      Renate hatte sich Pardon gekauft. Darin war ein Bild von einem kleinen Mann mit einem dicken Pimmel, aus dem vorne die Eichel rauskuckte, und Renate sagte: »Versteh ich nicht, wieso kommt da vorne denn nochmal so ’n kleiner Arsch raus?« Wie Männer untenrum aussahen, wußte Renate wohl doch noch nicht so genau, wie ich gedacht hatte.

      Für ihre nachgeholte Geburtstagsparty hatte Renate bei Toom zwölf Liter Apfelwein und zwanzig Würstchen besorgt.

      Es kamen die üblichen Typen mit ihren Weibern. Eine sah aus wie die Kröte Kylwalda von Catweazle. Papa war ihnen allen unheimlich, wenn er im Panzeranzug die Kellertreppe hochkam, um zu kucken, wer geklingelt hatte.

      »Wieviel Knalltüten kommen denn da bloß noch?« fragte Papa Renate, und dann fing er an, in der Waschküche neue Wäscheleinen zu ziehen, wobei Volker und ich ihm helfen mußten. Knoten aufmachen und den Küchenhocker verrücken.

      Einmal blieb Olaf auf dem Weg zum Klo an der offenen Waschküchentür stehen und machte einen Scherz von wegen Spätschicht und Gewerkschaft.

      Papa brummte nur.

      Im neuen Kicker war Bernard Dietz der Mann des Tages. Der MSV Duisburg hatte Schalke 2:0 geschlagen, und Dietz hatte vom Kicker die Note 1 bekommen.

      Beim Spiel gegen die Schweiz mußte Hölzenbein mit Verdacht auf Achillessehnenriß in der Halbzeit ausgewechselt werden, und wenn ich Helmut Schön gewesen wäre, hätte ich Dietz eingewechselt.

      Wir gewannen knapp mit 2:1 durch Tore von Cullmann und Geye. Es war Franz Beckenbauers 86. Länderspiel.

      Fußballweltmeister zu werden war nicht leicht, aber man brauchte dafür nicht soviel auf dem Kasten zu haben wie die Kandidaten im ZDF beim großen Preis mit Wim Thoelke. Da mußte man sich mit griechischer Mythologie, deutscher Außenpolitik oder französischen Weinen auskennen.

      Mama wußte wieder alles. Ehrlich, die hätte da mal mitmachen sollen, aber das wollte sie nicht.

      Jeden Samstag saß ich jetzt ab halb vier in meinem Zimmer am Tisch, vor mir ein Ringbuch, Stifte, Radiergummi und das Radio mit der Konferenzschaltung. Wenn ein Tor fiel, konnte ich das gleich eintragen. Gelbe Karten und Rote Karten. Für die Statistik rechnete ich die durchschnittliche Zuschauerzahl für jedes Stadion aus, malte Erfolgsdiagramme für alle Vereine und spielte, wenn das Geld langte, Toto nach Gustavs Rezept: erste Spalte 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 und dann nach Gusto. Die Gewinnquoten für Toto und Lotto standen am Dienstag auf einer Tafel hinter der Glastür in einem Hochhaus neben dem Wienerwald am Busbahnhof in Koblenz.

      Die Sportschau und das aktuelle Sport-Studio durfte ich nur im Hobbyraum kucken. Mama war Fußball »Fleutjepiepen«, Renate büffelte fürs Abitur oder wedelte vorm Garderobenspiegel ihre lackierten Fingernägel trocken, weil sie wieder mit Olaf verabredet war, Volker verschwendete seine Zeit lieber in Tanzschuppen, obwohl er früher mal Shellmünzen mit Deutschlands Nationalspielern drauf gesammelt hatte, und Wiebke war noch zu klein für aufregendere Hobbys als Gummitwist und Abzählreime. Und Papa war sowieso immer weg oder wurstelte in der Garage rum.

      Im Kicker kriegte Bernhard Dietz nur Einsen, aber ich war Fan von Borussia Mönchengladbach geworden. Nach den Noten aus dem Kicker und meinen eigenen Vorlieben stellte ich meine deutsche Traumelf auf:

      Maier

      Vogts, Beckenbauer, Dietz, Breitner

      Netzer, Overath, Hölzenbein

      Del’Haye, Müller, Abramczik

      Aber Gerd Müller machte ja nicht mehr mit. Das war ein Jammer. Die hatten doch ’n Stich beim DFB, daß sie weder Kalle Del’Haye noch Rüdiger Abramczik noch Gerd Müller spielen ließen.

      Im Europapokal der Pokalsieger schlug Eintracht Frankfurt den AS Monaco 3:0 (0:0). Zwei der drei Tore hatte die Eintracht Bernd Hölzenbein zu verdanken.

      An Mamas und Papas zwanzigstem Hochzeitstag war Papa auf Dienstreise in England, und Gladbach unterlag Wacker Innsbruck 1:2 (0:0). Das erfuhr ich aber erst am Donnerstag aus dem Kicker, den ich morgens gekauft hatte. Ich lehnte mich vor der ersten Stunde an die Schulhofmauer, um alles zu lesen, und war zutiefst betrübt.

      Gladbach! Hatte verloren! Da hätte man ja auch gleich Fan von Tennis Borussia Berlin oder vom Wuppertaler SV werden können. Erst als ich den Artikel zweimal gelesen hatte, ging mir ein Seifensieder auf: Es gab ein Rückspiel, und Gladbach hatte noch eine Chance! Heynckes-Tor läßt noch hoffen, stand im Kicker, auch wenn die Hoffnung nicht groß war. Doch in der Endabrechnung am 2. Oktober könnte Borussias Auswärtstor, das Heynckes in der 62. Minute erzielte, nachdem der Däne Flindt in der 53. und 55. Minute Innsbruck mit 2:0 in Führung gebracht hatte, sehr wichtig sein.

      Na also.

      Renate löffelte eine gezuckerte Pampelmuse aus und referierte den Schmonzes, den ihre Lehrer von sich gegeben hatten. »Arbeitsteilung versteht man so, daß einer bäckt und einer jägt.« Und der Mathelehrer sollte gesagt haben: »Das Produkt der Beträge ist gleich dem Betrug der Prodakte.«

      Den MSV Duisburg schlug Gladbach mit 4:1, durch Tore von Wimmer, Heynckes (2) und Simonsen.

      Neu war, daß Mama einen Malkurs an der Volkshochschule in Koblenz besuchte. Flußlandschaften und Blumensträuße malte sie da. Bei dem einen Fluß stimmte aber die Perspektive nicht. Der sah schief aus neben der Mühle am Ufer.

      Am Montag brauchte ich nicht zur Schule, weil ich Schnupfen hatte, und ich gab Renate Geld für den neuen Kicker mit.

      Den schmiß sie mir mittags aufs Bett. »Hier, dein schwachsinniges Heft!« Da stehe nur bestußter Käse drin über Fußballer mit gebrochenen Beinen.

      Offenbachs Beinbruch-Serie: Fünf Knochenbrüche in dreizehn Monaten.

      Bernhard Dietz hatte bloß die Note 2 gekriegt.

      Aus England hatte Papa ein Beer-Brewery-Set mitgebracht und versuchte, Bier damit zu brauen. Dabei kam eine Brühe raus, die zum Himmel stank wie faule Eier. Mama riß die Fenster auf, und Papa lief mit dem Pott in den Garten, um das Bier auf den Komposthaufen zu kippen.

      Ich mußte jetzt jeden Donnerstag nach Vallendar latschen zum Katechumenunterricht in einem Gebäude hinter der evangelischen Kirche. Da mußte auch Michael Gerlach hin. Der Unterricht wurde uns von Frau Frischke erteilt. Unter deren Fuchtel saß man säuberlich gescheitelt auf dem Stuhl rum, hörte sich Vorträge über Brotvermehrung, Almosen und Nächstenliebe an und versuchte, nicht aufzufallen. Es waren auch vier pummelige Mädchen dabei. Auf den Fensterbänken standen Zimmerpflanzen mit Staub auf den Blättern.

      Frau Frischkes Lieblingsausdrücke waren »zünftig« und »diesen da«. »Dann feiern wir ein zünftiges Fest, und anschließend machen wir diesen da!« Dabei tat sie dann so, als ob sie mit einem Besen den Boden fege.

      Wir sollten herausfinden, was Jesus uns persönlich zu sagen habe. Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt.

      Auf dem Rückweg kam man am Tor der Marienburg vorbei, wo eine Gedenktafel hing mit der Nachricht, daß Goethe da zweimal gepennt hatte.

      Dann den Wilgeshohl hoch. Wir versuchten immer zu trampen, aber es klappte nur ein einziges Mal, als eine von Michaels Schwestern zufällig mit ihrem schwarzen Mini-Cooper vorbeikam.

      Einmal standen wir schon zwanzig Minuten lang im Regen, und dann kreuzte ein Mädchen mit knallengen kurzen Jeans auf, stellte sich vor uns hin, hielt den Daumen raus und wurde gleich vom ersten Auto mitgenommen.

      Ein anderes Mal fuhr Frau Frischke an uns vorbei und ließ uns stehen. Als ob wir Luft für die gewesen wären.

      Das war ja wohl der Gipfel. Die sollte uns bloß nochmal was von christlicher Nächstenliebe vorsülzen, und daß