Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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dem Bild von einem halbnackten Pin-up-Girl überklebt. Das hätte Volker mal wagen sollen, da wäre aber was los gewesen.

      Volker hatte einen Kettenbrief gekriegt, den er siebenmal abschreiben und verschicken sollte, sonst werde es ihm dreckig gehen. Ein Empfänger habe mal vergessen, den Brief abzuschreiben, und sei dann fast an Fieberfraß gestorben, aber nach dem Abschreiben sei er Millionär geworden.

      Seine Abschriften gab Volker Hansjoachim, Renate, vier Typen aus seiner Klasse und mir, aber ich wollte noch abwarten, ob sich bei Volker der versprochene Reichtum einstellte.

      Bei Am laufenden Band mußten zwei Kandidaten beim Schlußduell drei Fragen aus der Tagesschau beantworten. Mama wußte immer alles. Mama wußte sogar, warum sich die Kutschenräder in Wildwestfilmen rückwärts zu drehen schienen und wieso sich die Pferde beim Hinfallen nicht wehtaten und daß es Damensattel hieß, wenn die Frauen beim Reiten quer auf dem Pferd saßen und beide Beine auf derselben Seite runterhängen ließen.

      Wiebke duftete nach Fichtennadeln.

      Der Sieger durfte alles behalten, an das er sich erinnern konnte, wenn es auf dem Fließband vorbeigekommen war: Dreirad, Stehlampe, Kuckucksuhr, Sombrero, Toaster, Aktentasche, Wippepferd und so weiter. Wir brüllten alle durcheinander, aber der Sieger hatte oft Ladehemmung und vergaß den Würfel mit den Fragezeichen, der immer was Besonderes verhieß.

      Mama hätte da mal sitzen sollen, die hätte alles abgeräumt.

      In den Pfingstferien übte ich den Türkischen Marsch. Rondo alla turca. Da konnte man kräftig reinhauen, aber wenn Mama reinkam, rief sie: »Drisch nicht so rabiat! Und nimm die Quanten vom Pedal!«

      Ich würde das Klavier malträtieren.

      Irgendwann klackerte dann immer Renate in Clogs die Treppe runter und wollte den Entertainer üben.

      Am Pfingstmontag kam ein Film mit einem Jungen, der ein Baumhaus hatte, und dann wollten welche einen Neger lynchen. Wer die Nachtigall stört. Bei uns gab’s weder Baumhäuser noch Neger, und Nachtigallen hatte ich auch noch keine gesehen. Oder gehört.

      Zeichnen hatten wir jetzt bei Herrn Uhde, einem dicken Glatzkopf, der nur im Nacken und über den Ohren noch Haare hatte. Planschbecken mit Spielwiese. Oder Hubschrauberlandeplatz.

      Wir mußten Jesusbilder abzeichnen und Bildinhaltsangaben danebenkritzeln. Jesus am Kreuz mit Gasmaske auf.

      Der Uhde hatte einen Riechkolben wie Obelix.

      Bis der Bus kam, suchte ich in den Rückgabeluken von Münztelefonen und Zigarettenautomaten nach Kleingeld, oder ich ging in die Löhrstraße. Photo Porst und Agfa Photo. Tapeten, Bodenbeläge, Teppiche und Dr. Müllers Sex & Gags.

      Poster ankucken im Kaufhof brachte es nicht. Das war immer das gleiche. Motorräder oder der Schimpanse, der auf dem Lokus sitzt und eine Banane frißt, oder der Arm von einem Gorilla, der aus dem Klo kommt und einer Frau die Unterhose runterzieht. Oder Wum auf seinem Sitzkissen, mit Banjo: Ich wünsch mir ’ne kleine Miezekatze.

      In der Unterführung am Zentralplatz war eine Zoohandlung. Da sah ich mal, wie ein kleiner Fisch als Futter für die großen Fische ins Aquarium geschmissen wurde. Der kleine Fisch flitzte hinter eine Muschel, aber das nützte ihm nichts, er wurde aufgefressen, ripsraps. In dem Aquarium hatte er nicht die geringste Chance gehabt gegen die anderen.

      Teppichhaus Eierstock.

      Ich durfte Papas altes Radio in meinem Zimmer aufstellen. Man mußte am Knopf drehen, bis sich die grünen Leisten in dem Sichtfenster berührten, dann war der Empfang okay.

      Es wurde eine Reportage über Contergankinder gesendet, über die Mädchen, die jetzt zum erstenmal ihre Periode bekommen hätten. Ihre Monatsblutung. Daß die sich nicht genierten, das im Radio zu erzählen?

      Die waren schon in der Pubertät. Ich hätte ja auch ein Contergankind werden können, aber in der Pubertät war ich noch nicht, soweit ich wußte.

      Im Radio kam auch Pop-Shop. Aus dem Hause vis-à-vis seh ich jeden Morgen früh die Mary Lou ein Stück die Straße gehn. Wenn mir die Musik gefiel, machte ich das Deckenlicht aus und legte mich auf die Teppichfliesen. Dann leuchtete nur noch die grüne Anzeigenskala.

      Einmal platzte Mama rein. »Was ist denn hier für ’ne ägyptische Finsternis?«

      Im Garten und im Haus war immer was zu tun. Papa kalkte die Garage, imprägnierte die Giebelvertäfelung und nagelte das Spalier für die Kletterrosen auf der Terrasse zusammen, und Mama jätete Unkraut, gebückt, mit Kopftuch um und rot im Gesicht.

      Wenn die Schwalben niedrig fliegen, werden wir bald Regen kriegen.

      Ich wollte als Erwachsener lieber doch kein Haus haben, auch kein gekauftes, sondern nur eine Wohnung, so wie Tante Dagmar, da hatte man nicht soviel Arbeit. Jeden Tag Hähnchen und Milchnudeln essen und bis zum Testbild Fernsehen kucken. Das sollte mir dann mal einer zu verbieten versuchen. Den würde ich einfach auslachen.

      Die Fußballweltmeisterschaft nahte. In der Rhein-Zeitung stand, daß die Brasilianer, die Holländer und die Italiener gefürchtet seien. Die Deutschen seien nur mittelmäßig und die Uruguayer Pleitegeier.

      Ich fand ja, daß die Maskottchen Tip und Tap aussahen wie Volker und ich, aber er sagte dazu nur, daß ich einen Sockenschuß hätte. Volker hatte nur noch Scheißlaune, seit sich seine Frachtkahnpläne zerschlagen hatten.

      In der Rhein-Zeitung stand auch, daß bei der WM 1970 das Spiel des Jahrhunderts stattgefunden habe, zwischen Deutschland und Italien, 3:4 nach Verlängerung. Diesmal wollte ich mir nichts entgehen lassen.

      Zum achten Geburtstag kriegte Wiebke eine Häkeltasche mit Smiley vornedrauf und war stolz wie Oskar. Als Renate mit Wiebkes Geburtstagsgästen im Garten Federball spielte, wurde in der Nachbarschaft wieder so schauerlich auf der Geige gekratzt, daß Mama trotz der Hitze die Terrassentür verrammelte.

      Beim Eröffnungsspiel knallte Paul Breitner den Chilenen ein tolles Tor rein, und Australien besiegten wir mit 3:0, mit Toren von Overath, Cullmann und Müller. Danach mußten wir gegen die DDR antreten, was irgendwie verkehrt war, weil die DDR doch auch zu Deutschland gehörte. Das Spiel war ein Riesenreinfall. Grabowski holzte daneben, Müller traf nur den Pfosten, und als dann auch noch Sparwasser ein Tor für die DDR schoß, hatte ich ein Kotzgefühl, das noch tagelang anhielt, obwohl inzwischen Sommerferien waren und ich zwei Einsen im Zeugnis hatte.

      Weltmeister waren wir zuletzt 1954 geworden, acht Jahre vor meiner Geburt, und es war ungerecht, daß wir jetzt, wo ich am Leben war, nur noch Pech haben sollten.

      An Helmut Schöns Stelle hätte ich Günter Netzer aber auch nicht erst zwanzig Minuten vor Schluß eingewechselt.

      Mama und Papa waren weggefahren, nach Meppen und nach Jever, und auf dem Mallendarer Berg führte Renate den Haushalt. Einmal besprühte sie eine Stubenfliege, die an der Küchengardine saß, mit Insektengift. Die Fliege fiel auf den Boden und blieb da liegen, Beine nach oben. Renate sprühte noch mehr Gift auf die Fliege, und da fing sie an, sich wie irre zu drehen, bis sie nicht mehr konnte.

      »Erzähl das bloß nicht Papa«, sagte Renate und beförderte die tote Fliege mit Handfeger und Schippe in den Komposteimer.

      Beim Spiel gegen Jugoslawien standen Bonhof, Wimmer, Herzog und Hölzenbein in der Mannschaft, und es klappte wieder. Breitner schoß ein Tor aus 25 Metern Entfernung und Müller eins im Liegen. Jetzt konnten wir doch noch Weltmeister werden.

      Gut waren aber auch die Holländer. Die besiegten Argentinien mit 4:0. Das erste Tor hatte Johan Cruyff erzielt, aber wie! An dem herausstürzenden Torwart trieb er den Ball immer weiter nach links vorbei und schob ihn dann ins leere Tor hinein, ganz lässig. Der beste Spieler aller Zeiten sollte ja Pele sein, aber ich hatte noch nie einen so guten wie Cruyff gesehen.

      Im Hobbyraum stellte ich den Treffer nach, mit einer Bocciakugel als Fußball, dem Sofa als Tor und den Sofabeinen als Torpfosten. Den argentinischen Torwart mußte ich mir dazu vorstellen. Vorbei und rein!