Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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hätten sich auch in der Küche unterhalten können, aber nein, sie mußten im Wohnzimmer sitzen, wo der Fernseher stand.

      Weil es viel regnete, spielten Oma und ich oft Malefiz. Es war ein Kinderspiel, sie zu besiegen, weil sie ihre Palisaden planlos in die Gegend setzte und mit den Figuren immer direkt vor den Palisaden stehenblieb, statt zurückzugehen. Dann hätte sie die Palisaden auch mit was anderem als einer Eins weghauen können.

      Wenn sie vier oder fünf Spiele nacheinander verloren hatte, kriegte Oma einen Wutanfall, und dann mußte man sie mal gewinnen lassen, was gar nicht so leicht war. Sie übersah die besten Züge und verlegte sich oft selbst mit Palisaden den Weg, aber wenn sie dann den Sieg errungen hatte, jauchzte sie vor Glück, und man konnte sie wieder in die Pfanne hauen.

      In die Wohnung oben war eine Familie mit drei Kindern eingezogen. Udo, Ulf und Meike Pohle, alle jünger als ich. Den Namen Meike fand Oma hanebüchen. Mike als Abkürzung für Michael, das lasse sie sich ja noch eingehen, aber Meike? Da hätten die guten Leute ihre Tochter ja gleich auf den Namen Itzenplitz taufen können.

      Alle drei Pohlekinder hatten Roller. Wir machten Wettrennen auf dem Gartenweg und waren mal Teilnehmer und mal Schiedsrichter. Udo Pohle besaß eine Stoppuhr, mit der auf die Hundertstelsekunde genau die Zeit genommen werden konnte.

      Ich wollte einen Rekord aufstellen, aber in der ersten Rechtskurve kam ich in der Matsche ins Rutschen und schlug mir das Kinn am Lenker auf.

      Oma verarztete die Wunde mit Jod.

      Mit den Pohlekindern ging ich auch in den Schloßgarten zum Entenfüttern und zu einem Spielplatz, wo es eine Hängekugel gab, in die man sich reinsetzen konnte, aber dann kamen andere Kinder und wollten uns die Kugel abspenstig machen. Die gehöre nur den Kindern, die da wohnten, und sie würden ihre Eltern holen, wenn wir nicht abschwirrten.

      Sollten die doch selig werden mit ihrer Scheißhängekugel.

      Renate schenkte Opa zum 78. Geburtstag zwei emaillierte Manschettenknöpfe. Den ganzen Vormittag über kamen Leute und gratulierten. In Jever sei Opa bekannt wie ein bunter Hund, sagte Oma. Sie war auch stolz darauf, daß Opa immer noch radfahren konnte. So wie jetzt. Wir standen am Verandafenster. Opa zog das Gartentor zu, schwang sich aufs Fahrrad und fuhr zum LAB-Treffen.

      Ich schaukelte, und Gustav harkte Blätter zusammen im Garten und rauchte Marlboro. Er war dick geworden.

      »Warum rauchst du eigentlich?«

      »Weil’s mir schmeckt.«

      Auch ’ne Antwort.

      Die Fernsehserie mit Alfred Tetzlaff konnte Oma nicht leiden. Dieser Prolet, wie der schon dasitze, im Unterhemd. »Säuft Bier und rülpst und macht seine Frau zur Minna, sowas will man doch nicht sehen!«

      Beim Grand Prix landeten Cindy & Bert auf dem letzten Platz. Gesiegt hatte Abba. Die sähen aus wie eine zum Leben erweckte Buttercremetorte, sagte Gustav, und so würden sie auch singen.

      Mit Ulf und Udo tollte ich ums Haus, bis Oma uns durchs Schlafzimmerfenster mit Wasser aus dem Wäschesprenger bespritzte.

      Dann stahl ich mich ins Haus und versteckte mich unterm Küchensofa. Oma setzte Wasser auf und führte Selbstgespräche. »Ich hab die doch nur verscheuchen wollen«, sagte sie, und ich fühlte mich Scheiße, wie ich da unterm Sofa lag, während Oma sich ums Essen kümmerte und wegen uns Gewissensbisse hatte.

      Kurz vor Ostern kam Mama mit einer abartigen Dauerwelle vom Friseur zurück.

      Papa hätte am Ostersonntag lieber Unkraut geschövelt, als sich knipsen zu lassen, aber das Walroß paßte wieder auf, daß das sonntägliche Gartenarbeitsverbot eingehalten wurde.

      Mama im weißen Rock und Papa mit graublauem Schlips. »Grau oder blau oder graublau oder blaugrau«, schimpfte Mama. »Nie mal irgendwas Farbiges!«

      In der Nachbarschaft fiechelte neuerdings ein Kind auf der Geige. Papa sagte dann, ihm würden gleich die Plomben rausfallen, und ging in den Keller.

      Die Mittagessenbimmel. »Na los, na los, wo bleibt ihr denn? Oder muß ich euch erst Beine machen?« Ob wir wieder eine Extrawurst gebraten kriegen wollten, Volker und ich.

      Wiebke konnte noch keine Spaghetti aufdrehen, und statt »Serviette« sagte sie »Servierte«.

      Nach dem Essen gab es Kaffee mit B&B-Milch. Einmal hatte Volker den Tropfen abgeleckt, der an der Dose runtergelaufen war, und sich einen Anschnauzer eingefangen. Dann war ein Dosenmilchkännchen angeschafft worden, eins aus Glas, zum Umfüllen, mit Schraubverschluß und Schiebeleiste, die aber postwendend verkrustete und klemmte.

      Volker wollte jetzt nach Norwegen reisen, als Schiffsjunge auf einem Kahn, auf dem ein Vetter von Mama erster Offizier war, und Papa wollte sich nach England versetzen lassen. Dann hätten wir alle nach England ziehen können.

      Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten.

      Nach Ostern kamen drei Neue in die Klasse, und wir mußten uns umsetzen. Jetzt saß ich neben Axel Jochimsen, der zu allem und jedem unanständige Kommentare ablieferte. »Willi Dickhut fickt gut.« Oder: »Sport-Erdkunde-Meier leckt sich selbst Eier.« Oder »Pischpenis«, was »Tischtennis« heißen sollte. In seinem Diercke hatte er mit Tinte alles mögliche ins Schweinische abgeändert: Tittengebirge statt Mittelgebirge, Onanier-See statt Onega-See und Penishalbinsel statt Apenninenhalbinsel. Dick umrandet war eine Überschrift auf Seite 100: Das Rote Becken.

      Ich lud ihn zu meiner Geburtstagsfeier ein und außerdem Michael und Holger Gerlach, Erhard Schmitz und Jürgen Hartlieb, weil der mich in Mathe immer abschreiben ließ.

      Ein Spiel, das Mama sich für uns ausgedacht hatte, ging so, daß man Puderzucker von einem Teller löffeln mußte, ohne daß der Pfennig umfiel, der senkrecht im Zucker steckte, aber Erhard Schmitz und Axel Jochimsen wollten lieber hoch in Renates Zimmer und die neue Otto-Platte hören, mein schönstes Geschenk. Die war zum Totlachen. Mutti, was machen die beiden Hunde da? Ach, weißt du, der eine ist blind, und der andere schiebt ihn über die Straße. Oder: Es ist ’ne Atombombe auf Bayern gefallen, fünfundsechzig Mark Sachschaden.

      Wurzel rein, Wurzel raus.

      Hinterher hörten wir nochmal die alte Otto-Platte, die ich aber schon in- und auswendig kannte. Er würgte eine Klapperschlang, bis ihre Klapper schlapper klang.

      Axel Jochimsen übernachtete auch bei uns. Mainzelmännchen-Kapriolen wollte er nicht kucken, und als er sich den Pulli über den Kopf zog, knisterte es laut.

      Unter dem Siegel der Verschwiegenheit verriet mir Axel vorm Einschlafen ein Geheimnis, das ich niemals, aber auch wirklich niemals ausplaudern dürfe: »Der Kowalewski hat nur ein einziges Ei.«

      Wow. Wer hätte das gedacht! Wo der sonst immer so ’ne große Fresse hatte.

      Die Straßen von San Francisco. So wie Lieutenant Mike Stone und Inspector Steve Heller vom Morddezernat hätte man dem Trebitsch mal auf die Pelle rücken müssen. Mit einem wippenden Straßenkreuzer vorfahren, hinten am Gürtel Handschellen hängen haben und ein Taschentuch zücken, in das man die Revolver wickelt, die da rumgammeln.

      Mama führte ein Telefongespräch mit Tante Gertrud, das fast eine Stunde lang dauerte. Ich mußte lange nachfragen, bis ich erfuhr, worum es gegangen war. Tante Gertrud hatte Krebs.

      Ich stieg heulend in die Badewanne und blieb im Wasser liegen, bis ich schon ganz schrumpelige Haut hatte.

      Zu Tante Dagmars Geburtstag fabrizierte Renate aus Stoffresten ein Nadelkissen.

      Weil mein Rad platt war, mußte ich bei meiner nächsten Tour mit Michael und Holger Gerlach Volkers Polorad nehmen. Bergauf konnte man das nur schieben, und bei den Abfahrten kam man nicht in Schwung. Vor der langen Abfahrt bei Simmern bettelte ich Michael und Holger an, ob wir nicht mal tauschen könnten, aber das wollten sie nicht. Hätte ich auch nicht gewollt an deren Stelle. Ich mußte dann eben mit dem Polorad da runter und kam als letzter angedackelt.

      Auf