ankucken. 0:1 Edström (26.), 1:1 Overath (50.), 2:1 Bonhof (51.), 2:2 Sandberg (53.), 3:2 Grabowski (78.), 4:2 Hoeneß (90., Foulelfmeter). Donner und Doria. Das war ja wohl mindestens so dramatisch wie das Spiel des Jahrhunderts. Ich drehte fast durch, aber da war ich der einzige in unserer Familie.
Am Montag mußte ich in Koblenz Paßfotos von mir machen lassen für den neuen Wuermeling.
Bloß nicht die Augen zuhaben, wenn der Blitz kommt.
Renates Liebster war jetzt Schütze Arsch im letzten Glied bei der Bundeswehr, in der Deines-Bruchmüller-Kaserne.
Im Zweiten kam ein Wildwestfilm mit Old Surehand, der aus großer Entfernung brennende Lunten ausschießen konnte, sich aber sonst wie ein blöder Lackaffe aufführte. Wie der schon redete: »Ich danke Euch nochmals, Miss!« Und: »Eigenartig, Ihr erinnert mich an jemanden. Sie war hübsch, genau wie Ihr …« Zum Reihern.
Meinen Wuermeling mußte ich selbst unterschreiben, über der Zeile Unterschrift des Inhabers.
Renate fuhr nach Lindau zu Tante Hanna, und abends spielten wir gegen Polen. Dafür mußte erst noch das Regenwasser vom Rasen gewalzt werden, aber der wurde und wurde nicht trocken. Immer blieb der Ball in Pfützen liegen, und bei Spurts rutschten die Spieler aus und fielen auf die Fresse. Das Frankfurter Waldstadion hatte keine gute Drainage.
Die Polen spielten mit Deyna, Lato und Gadocha. Der beste Stürmer, Szarmach, fehlte zum Glück, der war verletzt. Im Tor stand der gefürchtete Elfmetertöter Tomaszweski. Als Hoeneß in der zweiten Halbzeit zum Elfmeter anlief, dachte ich gleich, das geht schief, und tatsächlich, Tomaszewski hielt! Wir hätten ja nur ein 0:0 gebraucht, um ins Endspiel zu kommen, aber es war eine Erlösung, als Gerd Müller eine Viertelstunde vor Schluß ins Schwarze traf. Gerd Müller war doch der Beste von allen. Was der schon für Tore geschossen hatte. Eins phantastischer als das andere.
Um den dritten Platz hätte ich nicht spielen wollen. Polen gegen Brasilien. Eben noch den Weltmeisterschaftstitel vor Augen und dann gegen eine andere Verlierermannschaft antreten müssen. Da ging es nur um die Ehre, und es gab für keinen groß was zu bejubeln, auch in der 75. Minute nicht, als Lato den Siegtreffer schoß.
Abends kam im Ersten Otto, was ich noch im Wohnzimmer kucken durfte, aber für den Gruselfilm zwei Stunden später mußte ich alleine in den Hobbyraum runter. Das Schloß des Schreckens. Da glotzten wandelnde Leichen nachts durch die Fenster rein. Die mittlere Neonröhre britzelte laut, aber ganz im Dunkeln wollte ich auch nicht sitzen. Die Vorhänge hatte ich zugezogen. Alle paar Minuten, wenn das Bild zu flackern anfing, mußte ich aufspringen und den Fernseher kurz ausmachen, damit er sich wieder bekriegte, und wenn ich auch wußte, daß unterm Sofa nur Staubflusen lagen und keine kalte glitschige Totenhand hervorschnellen und mich am Fußgelenk packen konnte, fiel es mir jedesmal schwer, vom Sofa zum Fernseher zu hüpfen und zurück. In dem Film passierten immer schaurigere Sachen. Allein von der Musik drehte sich einem der Magen um. Ich wollte keine Memme sein, aber irgendwann konnte ich es nicht mehr aushalten, und ich rannte, ohne den Fernseher auszumachen, die Treppe hoch und in mein Zimmer und sprang ins Bett, und das Licht ließ ich an.
Am Sonntag stellte Mama vor dem Endspiel Kirschkuchen mit Schlagsahne auf den Tisch. Für meinen Geschmack dauerte die Abschlußzeremonie zu lange.
Papa war auf Dienstreise. Von den Spielen hatte er sich kein einziges angekuckt. Papa hatte sowieso eigenwillige Fernsehgewohnheiten. Ganz selten Dick und Doof oder Charlie Chaplin oder Wickie und die starken Männer, meistens Tagesschau und immer alle Sendungen mit Kulenkampff. Der sah auch so ähnlich aus wie Papa, nur fröhlicher.
Kurz vorm Anpfiff stellte sich raus, daß die Eckfahnen fehlten.
Mama schob sich gerade die Sofakissen hinters Kreuz, als die Holländer schon einen Elfer zugesprochen kriegten, und bevor man überhaupt wußte, was da vor sich gegangen war, schoß Neeskens den Ball ins Tor, und wir waren die Angeschmierten. 0:1 in der ersten Spielminute.
»Ach du dicker Vater«, sagte Mama, die aber nur pro forma für Deutschland war. Ihr gefielen die Brasilianer besser.
Jetzt mußten wir alles nach vorne werfen, sonst waren wir weg vom Fenster. Nicht daß die Holländer uns noch vernaschten. Aber 1954 gegen die Ungarn hatten wir sogar 0:2 zurückgelegen und trotzdem gewonnen.
Der Schiedsrichter war ein Metzger aus Wolverhampton. Wenn er fair war, mußte er irgendwann auch uns einen Elfer geben. Das machte er dann auch, und nach dem Schuß von Breitner stand es 1:1.
Johan Cruyff wurde von Berti Vogts gedeckt, das war gut.
Kurz vor der Halbzeitpause kam Gerd Müller an den Ball, trickste drei Holländer aus und schoß das 2:1, aus der Drehung.
»Nun mach aber mal halblang!« rief Mama, als ich jubelnd durchs Wohnzimmer sprang.
Nach dem Halbzeitpfiff lief ich raus, um zu kucken, ob auch der Mallendarer Berg so leergefegt aussah wie der Rest von Deutschland während des Endspiels. Zumindest die Theodor-Heuss-Straße sah in beiden Richtungen wie leergefegt aus. Die sah aber auch sonst immer wie leergefegt aus.
In der zweiten Halbzeit wurde es brenzlig. Da waren die Holländer am Drücker. Sie hatten Torchancen noch und nöcher, und es standen einem die Haare zu Berge. Sepp Maier hatte alle Hände voll zu tun. Mit Glanzparaden verhinderte er den drohenden Ausgleich.
Als Volker pissen ging, sicherte ich mir seinen Platz mit Lehne. Vorher hatte ich in der Sofamitte zwischen Wiebke und Mama sitzen müssen. Weggegangen, Platz vergangen.
Das Endspiel dauerte und dauerte, aber dann kam der Schlußpfiff, und wir waren Weltmeister, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder! Weltmeister!
Ich schnappte mir Volkers alten Fußball und lief damit nach draußen, um zu kicken. Die Theodor-Heuss-Straße sah immer noch wie leergefegt aus.
Mama brachte mich nach Hannover, wo ich zehn Tage lang bleiben durfte. Tante Dagmar hatte das Endspiel nicht gesehen. Sie interessierte sich nicht für Fußball. Als ich von ihr wissen wollte, mit wem sie lieber verheiratet wäre, mit Gerd Müller oder mit Johan Cruyff, sagte sie, die würde sie alle beide von der Bettkante stoßen. »Mit Fußballern kannst du mich jagen!«
In Hannover war Schützenfest. Tante Dagmar hatte einen Bekannten, Herrn Löffler, der alles bezahlte und noch lachte dabei. Achterbahn, Riesenrad, Würstchen, Cola, Geisterbahn, Amorbahn, Auto-Scooter und wieder Achterbahn. Allein für mich verpulverte der an dem Abend an die zwanzig Mark.
Den Anordnungen des Personals ist Folge zu leisten.
Wenn in der Achterbahn der Bügel einrastete, kriegte ich Gänsehaut. Dann ging es erst im Schneckentempo nach oben, ratter ratter ratter, aber dann auf einmal mit Lichtgeschwindigkeit in die Tiefe, und wenn die Achterbahn wieder hochfuhr, sackte einem der Magen bis in die Kniekehlen.
An der Losbude gewannen wir nichts. »Pech im Spiel, Glück in der Liebe«, sagte Tante Dagmar. Sie sagte auch Sachen wie Blumenstrunz, Arschbecher, zum Bleistift und alles in Dortmund. Ihren Fotoapparat nannte sie Knipskiste.
Im Funkhaus lief ich wieder auf Händen rum, um der alten Frau Leineweber zu imponieren, und einmal, bei großer Hitze, ging ich ins Freibad am Maschsee. Da wollte ein Mann den Rücken mit Sonnenmilch eingerieben kriegen und zahlte mir fünf Mark dafür, daß ich das machte.
Tante Dagmar verlangte mir danach den feierlichen Schwur ab, nie wieder Geld von fremden Leuten anzunehmen, weder von alten Schwuliberts am Maschsee noch von sonstwem.
Zu schaffen machte mir aber mehr, daß Gerd Müller seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärt hatte. 68 Tore in 62 Spielen und dann aufhören, das wollte mir nicht in den Kopf. Auf dem einen Foto von der Siegesfeier hatte Gerd Müller noch mopsfidel in die Kamera gelacht, mit Zigarre im Mundwinkel.
Tante Dagmar wohnte in der Marienstraße, in der Nähe von einem großen 4711-Schild, das da an der Ecke hing.
In dem Haus gab es einen Mann, vor dem alle Angst hatten, weil er zwei Meter groß und einen Meter breit war und jeden Tag seine Frau verkloppte.