hätte, wären wir da nicht mehr lebend rausgekommen.
Gut war Tante Dagmars Plattensammlung. Da gab es fast alles von Reinhard Mey, auch die teure Doppel-LP. Da sang er auch auf französisch. C’etait une bonne année je crois.
Kein Fels ist zu mir gekommen, um mich zu hören kein Meer, aber ich habe dich gewonnen, und was will ich noch mehr?
Am Sonntag wurde im Ersten Ich denke oft an Piroschka wiederholt, aber Tante Dagmar wollte mir die Herrenhäuser Gärten zeigen, und wozu sollte ich noch an Piroschka denken. Lieber vierzehn Jahre Sing Sing als der noch mal begegnen.
Als ich allein mit dem Zug zurückfuhr, blieb ich immer nur so kurz wie möglich auf dem Klo, damit der Schaffner nicht dachte, daß ich mich da als Schwarzfahrer eingeschlossen hätte.
Von Bielefeld bis Dortmund saß ein Mann im Abteil, der sich ungeniert in der Nase bohrte, und wenn er was gefunden hatte, wischte er sich das am Hosenbein ab.
Nach der Fahrkarte mußte ich dem Schaffner noch meinen Wuermeling vorzeigen.
Bei Tante Hanna im Allgäu hatte Renate den Zauberberg gelesen und den Rasen gemäht, aber der Rasenmäher hatte einen Wackelkontakt gehabt und war dauernd ausgegangen.
Sie hatte auch im Bodensee gebadet. Jetzt knüpfte sie einen Teppich mit einer bombastischen Teppichknüpfmaschine, die Oma Schlosser uns gestiftet hatte. Ich wollte auch mal, riß mir aber gleich den Zeigefinger auf.
Mama klebte mir ein Pflaster drüber. Ich ging dann nochmal selbst an den Medizinschrank und klebte den Rest von dem Finger mit Pflastern zu, immer noch eins und noch eins, bis alles dicht war, und als ich die Pflaster morgens abpulte, war die Haut an dem Finger weiß und wabbelig. Jetzt muß er amputiert werden, dachte ich mit Schrecken, aber der Finger erholte sich wieder.
Nach den Sommerferien hatten wir einen neuen Deutschlehrer mit Lockenkopf und getönter Brille. Surges hieß der, fast wie das neue Fruchtbonbon von Suchard, und er sagte uns, welches Reclamheft wir uns kaufen sollten. Das Gold von Caxamalca.
In Mathe mußten wir mit Rechenschieber arbeiten. Verkettet man einen Verschiebungsoperator und seinen Gegenoperator, so erhält man den neutralen Operator Null als Ersatzoperator. Mir war schon die Plastikhülle von dem Ding zuwider.
Der Religionslehrer lispelte. Wir follten mal darüber nachdenken, daff Gott den Menfen erft am Fluffe fuf. »Der Menf ift die Krone der Föpfung.«
Öd war es auch in Geschichte, mit den Langobarden und dem Reich der Franken und Karl dem Großen, und noch öder in Chemie. Schwefeldioxid, Kalkspat und Bromdampf. Der Chemielehrer sah aus wie der Ziegenbock Bobesch aus der Augsburger Puppenkiste und war schätzungsweise hundertachtzig Jahre alt.
Französisch hatten wir beim Schlaumeier. Nicole? Qui est-ce? C’est la sœur de Philippe. Et qui est Philippe? C’est le frère de Nicole? Oui, c’est le frère de Nicole. Davon hatte ich auch bald genug.
In Bio war schon wieder Sexualkunde dran. Die Ovulation, der Vorgang der Befruchtung und die Antibabypille. Hier müsse er dem Volksmund widersprechen, sagte der Engelhardt. Das Wort sei nicht ganz korrekt. Die Bezeichnung Antibefruchtungspille treffe die Sache genauer.
Willi Dickhut fragte allen Ernstes: »Müssen sich der Mann und die Frau dann ganz nackt ausziehen für die Befruchtung?« Bei dem fiel der Groschen in Pfennigstücken.
Aber was war, wenn der Mann beim Ficken mal pinkeln mußte? Das war eine heiß diskutierte Frage auf dem Schulhof. Der einzige, der sie im Unterricht stellte, war wieder der Dickhut: »Ist es schädlich, wenn beim Verkehr zwischen Mann und Frau einige Tröpfchen Harn in die Scheide gelangen?«
Nein, sagte der Engelhardt, das werde alles auf natürlichem Wege wieder ausgeschieden.
Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.
In der Schule war ein Aushang. Da konnte man seinen Friedrich Wilhelm hinschreiben, wenn man in der Schulmannschaft Fußball spielen wollte. Name, Alter, Klasse, Position. Ich paßte einen Moment ab, wo mir keiner zusah, und dann trug ich mich in die Liste ein: Martin Schlosser, 12, 7b, Mittelstürmer. Erst war mir das zu dreist vorgekommen, weil fast alle Mittelstürmer sein wollten und keiner Vorstopper, obwohl es ja auch Vorstopper geben mußte, aber ich wollte nun mal Tore schießen wie am Fließband. Meine Idole waren schließlich Cruyff, Pele und Müller und nicht Schwarzenbeck. Wenn schon, denn schon.
Tagelang wartete ich auf eine Reaktion, und in jeder Pause sah ich mir den Aushang an. Da hatten sich drei Torhüter, vier Liberos, zwei Linksaußen, drei Rechtsaußen und elf andere Mittelstürmer eingetragen. Dann war der Zettel weg, und es hingen bloß noch zwei Ecken davon am Brett, links und rechts unter den Reißbrettstiften.
Über die Schulmannschaft verlor nie wieder irgendwer ein Sterbenswörtchen. Weiß der Geier, ob die Idioten einen anderen Mittelstürmer als mich genommen hatten oder ob denen die Lust an der Sache vergangen war. Die würden sich noch in den Arsch beißen, wenn ich zweimal oder dreimal Weltmeister geworden war als Kapitän der deutschen Elf, zehnmal am Stück Deutscher Meister, Rekordnationalspieler und der größte Torschützenkönig aller Zeiten. Und dann sollte mich mal einer fragen, wie das mit der Schulmannschaft vom Eichendorff gewesen war.
In der Buchhandlung Reuffel blätterte ich in den WM-Büchern von Fritz Walter, Dieter Kürten, Ernst Huberty, Hennes Weisweiler, Uli Hoeneß, Paul Breitner und Udo Lattek. Wie der Haitianer Emanuel Sanon die Weltrekordserie des italienischen Torwarts Dino Zoff beendete, der 1142 Spielminuten lang alles gehalten hatte.
Das WM-Buch von Franz Beckenbauer kriegte man nur bei Eduscho. Für ein anderes gab es in den Schokoladentafeln von Sprengel farbige Sammelbilder von den Weltmeisterschaften 1966, 1970 und 1974. Drei hatte ich schon. Nr. 8: Brülls war verletzt, Haller mußte aus taktischen Gründen zusehen. So kam der Duisburger Krämer als Rechtsaußen zum Zug. Seine Dribbelkünste halfen mit, der deutschen Mannschaft den knappen Erfolg über Spanien zu sichern. Nr. 42: Müllers Siegtor wie aus dem Lehrbuch! Moore hatte den deutschen Torjäger sträflich ungedeckt gelassen, Bonetti sich zu spät von der englischen Torlinie gelöst. Ein klassischer Treffer in klassischer Haltung! Und Nr. 76: In vorbildlicher Schußhaltung jagte Grabowski den Ball an Augustsson (18) vorbei zum 3:2 ins schwedische Tor.
Auf der Straße übte ich, wie man Bällen Drall gibt. Immer gegen die Gartenmauer.
Wiebke kuckte Plumpaquatsch. Die wollte eben nicht Weltmeister werden. Hätte sie ja auch gar nicht gekonnt, oder allenfalls im Damenfußball. Ein Glück, für mich und für Deutschland, daß ich kein Mädchen war!
Im Zweiten kam ein Krimi mit Miss Marple, einer dicken alten Frau, die schlauer war als alle Polizisten. Um einen Mörder zu finden, ließ sie sich bei einer verdächtigen Familie als Hauswirtschafterin einstellen.
Was der Trebitsch wohl für ein Gesicht gemacht hätte, wenn Michael und ich angekommen wären und gesagt hätten, daß wir für ihn Essen kochen und die Fenster putzen wollten. Da hätten wir auch gleich Harakiri begehen können. Erwachsene, selbst alte Omas, hatten es doch bedeutend leichter beim Detektivspielen.
Zum Geburtstag wollte Papa einen Teppich für Mama knüpfen und hatte auch schon fast ein halbes Jahr lang daran rumgedoktert. Zum Schluß mußte Renate mithelfen, dabei hatte sie selbst am nächsten Tag Geburtstag und mußte noch fünfzig Amerikaner backen.
Ich hatte für Renate bunte Schnapsgläser gekauft und stellte sie morgens auf den Gabentisch. Da lagen schon Broschen, Anhänger und ein neuer Bademantel. An einer Kerze lehnte eine LP von Cat Stevens: Mona Bone Jakon.
Abends brachte Olaf Renate eine Rose und einen Ring mit. Aus einem von den Schnapsgläsern, die ich ihr geschenkt hatte, trank Renate Whisky, den sie mitten in der Nacht wieder auskotzte, vom Balkon runter.
Beim Mittagessen stellte sich raus, daß Renate schon nach der zweiten Stunde wieder nachhause gefahren war und sich hingelegt hatte.
Renates Kotze spülte Papa abends mit dem Gartenschlauch von der Hauswand ab.
Von Wiebke, Volker und mir