Zum Mittagessen mit dem Bus auf den Mallendarer Berg fahren, dann ’ne Radtour nach Bad Ems und später in Koblenz Eis essen und ins Kino gehen.
Scheiß Meppenkaff.
Ich holte unseren alten Plattenspieler vom Boden und baute das Ding in meinem Zimmer auf. Ob das noch funktionstüchtig war? Um es in Gang zu setzen, brauchte ich einen Doppelstecker.
Probieren geht über Studieren. Als erstes legte ich eine LP von Reinhard Mey auf.
Wie vor Jahr und Tag ist noch immerfort
Das Glück und dein Name dasselbe Wort …
Ging doch! Auf dieser Platte war auch das Lied, in dem Reinhard Mey sich Gedanken übers Sterben und seinen Sargtischler machte:
Wenn der so hastig daran sägt,
Als käm’s auf eine Stunde an …
Wie alte Leute es ertrugen, zu wissen, daß sie höchstens noch einige Jährchen zu leben hatten und jeden Moment abnippeln konnten, ging mir über den Verstand.
Für die Müllabfuhr war der Stern von letzter Woche zu kostbar. Die Ausgabe mit den Negerinnen wollte ich mir noch öfter ansehen, und ich mußte das Heft in Sicherheit bringen. Aber wo? Mein eigenes Zimmer war zu riskant. Da stellte Mama dauernd alles auf den Kopf, und ich hatte keine Lust dazu, die Frage zu beantworten, was ich denn an diesem alten Stern so furchtbar interessant fände, daß ich den bei mir hortete.
Ich entschied mich für Wiebkes Kleiderschrank. Da obendrauf türmte sich soviel unaufgeräumtes Zeugs, daß ein alter Stern nicht weiter auffiel, und ich konnte ihn jederzeit wieder hervorkramen.
Gegen Griechenland ging Deutschland mit 1:0 in Führung, durch ein Tor von Heynckes. Der Bundestrainer Helmut Schön hatte auch Günter Netzer mal wieder aufgestellt, aber der konnte sich nicht so recht profilieren, was ich traurig fand, weil ich mir wünschte, mit Netzer auf dessen alte Tage zusammenspielen zu dürfen. Ein Doppelpaß zwischen Netzer und mir, dann flankt Netzer den Ball Abramczik zu, der ihn per Hackentrick an mich weitergibt, und ich schlenze die Pille aus einem physikalisch unmöglichen Winkel ins obere linke Toreck!
Delikaris hieß der Grieche, der das Ausgleichstor geschossen hatte.
In Geeste verloren wir mit 0:2. Da hatte Didi bei unseren Kontern noch so oft »Flügelwechsel!« schreien können. Der Schiedsrichter war parteiisch gewesen. Der hatte ein brutales Foul an Glübi übersehen, Geeste einen unberechtigten Freistoß zuerkannt und Didi in der zweiten Halbzeit wegen unbotmäßigem Verhalten einen Platzverweis erteilt. Nur weil Didi an der Seitenlinie ausgespuckt hatte.
»Was ist los mit euch?« fragte Uli Möller nach dem Spiel unsere Sturmspitzen. »Habt ihr kein Zielwasser gesoffen heute?«
An den beiden Gegentoren war ich unschuldig. Die hatte der Linksaußen von Geeste geschossen, und zwar aus abseitsverdächtigen Positionen.
Aus dem Radio kriegte man morgens meistens sofort um die Ohren gehauen, wie das Wetter auf dem Kahlen Asten war. Komischer Name für ’n Berg. Im Volksbrockhaus stand er nicht drin, und ich fragte Mama danach.
»Manchmal hab ich den Eindruck, daß du in Heimatkunde nur geschlafen hast«, sagte sie. »Der Kahle Asten ist der zweithöchste Gipfel des Rothaargebirges.«
Also da, wo Renate hauste. Schien wohl doch ’ne eher unwirtliche Gegend zu sein, wenn die Eingeborenen ihren Berggipfeln Namen gaben, bei denen man das rauhe Felsgestein förmlich vor sich sah, inklusive windzerzauster Krähen, die da womöglich nisteten und sich mit jeder Wetterlage abfinden mußten. Teils heiter, teils wolkig.
Ohne jede Vorwarnung hatten jetzt auch die Evangelischen Reli. Der Pauker hieß Böhringer und trug Jeans, was aber noch lange nicht hieß, daß man sich bei dem vorbeibenehmen durfte. Mit Schwätzern machte er kurzen Prozeß: Die kriegten einen Klassenbucheintrag, und im Wiederholungsfall durften sie ihr Verhalten dem Direktor persönlich erläutern, Herrn Berthold, der als graue Eminenz in einem Anbau der Gymnasialkirche sein Amt versah und sich nur selten in den Klassenzimmern blicken ließ.
Die schlimmsten Finger in der 8b waren der Holzmüller, der Harms, der Albers und der Miesowski. Bei denen mußte man darauf gefaßt sein, daß sie einem den Ranzen auskippten und die Hefte zerfetzten oder einem Wasserbomben auf den Kürbis feuerten, wenn man friedlich auf dem Kackstuhl saß. Seit ich einmal mit dem Miesowski gerauft hatte und im Nullkommanichts untergedükert worden war, ging ich handgreiflichen Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg.
Als auch Holger Bohnekamp eine Abreibung bezogen hatte, in der großen Pause, hinter der Turnhalle, munterte ich ihn auf. Er wohnte in Rütenbrock. Das war ein Dörfchen an der holländischen Grenze, dreißig Kilometer von Meppen entfernt, und der Bohnekamp mußte jeden Morgen mit dem Bus die ganze Strecke hergefahren kommen und mittags zurück, genau wie Wolfgang Dralle und Hermann Gerdes, die auch beide in Rütenbrock wohnten. Jott weh deh: janz weit draußen.
Meinen angefangenen Brief an Michael schloß ich mit einer Schimpftirade über den Miesowski ab. Dann lief ich in Papas Arbeitszimmer und kramte in den Schubladen des Schreibtischs nach Briefmarken. Als ich eine gefunden hatte, hielt Mama mich am Arm fest und sagte, es gehe nicht an, daß ich mich hier frech an den Marken bediente. »Die mußt du von deinem Taschengeld bezahlen!« Umsonst sei der Tod.
Fuffzig Pfennig Porto für jeden Brief, das war ein Haufen Schotter.
Irgendwie war der Dampfkochtopf zu heiß geworden, und nun hatte er ’ne Beule am Boden. So gehe alles den Bach hinunter, sagte Papa.
Mama drückte mir einen Zehnmarkschein in die Hand und schickte mich zum Friseurgeschäft in der Herzogstraße. Da waberten die erstickenden Dünste aus der Damenabteilung in die Herrenabteilung rüber. In der Ecke mit den Stühlen, wo man warten mußte, bis man am dransten war, gab es nur Käseblätter zu lesen, mit Tortenrezepten und Gequackel über den Nachwuchs gekrönter Oberhäupter.
Friseur hätte ich nicht werden wollen. Opas auf’m Kopp rumschnibbeln und sich dabei über dit und dat unterhalten, und dann muß man den Besen schwingen und die abgeschnittenen grauen Löckchen zusammenfegen.
Abstoßend waren auch die Fotos von den ondulierten Playboys an den Wänden.
Mit mir unterhielt der Friseur sich nicht, als ich an der Reihe war. Er stach mir mit der Scherenspitze dreimal ins linke Ohr, und ich atmete auf, als ich den engen Kittel nach dem Frisiertwerden wieder abgemacht kriegte.
Das größte Ereignis des Tages hatte ich verpaßt: Wenn man Wiebke glauben durfte, war direkt vor unserm Haus bei einem LKW ein Reifen explodiert.
Im Gestrüpp neben der E-Stelle stolperte ich über ein tolles Ruder, doch was nützte einem das tollste Ruder ohne Ruderboot? Weil ich keine Zulassung als Privatdetektiv besaß, hatte ich auch nichts davon, daß in dem Nachbarstädtchen Haselünne eine Mordtat verübt worden war.
Den SV Hasborn schickte Gladbach im DFB-Pokal mit 3:0 nachhause. Sonst noch jemand ohne Fahrschein?
Als Renate wieder mal angeschlamstert gekommen war, regte sie sich über die faulen Postbeamten in Birkelbach auf. Das Postamt sei da vormittags bloß von Viertel nach neun bis Viertel vor elf geöffnet und nachmittags von drei bis fünf. Und das war auch schon fast die einzige Neuigkeit, die sie mitbrachte. Eine Glasfabrik im Raum Kassel hätten sie neulich besichtigt, das erzählte sie noch, aber damit riß sie niemanden vom Stuhl.
Die Sache mit dem Praktikum hatte sie sich inzwischen anders überlegt. Sie wollte jetzt doch studieren und Grundschullehrerin werden, und das paßte Papa nun auch wieder nicht in den Kram. Kleinen Hosenscheißern das ABC beizubringen, das sei keine Berufsperspektive. Wenn schon Lehrerin, dann besser gleich Studienrätin. Alles andere sei nicht Fisch und nicht Fleisch.
»Ich hab aber keine Lust, mich mit hochnäsigen Gymnasiasten rumzuärgern«, sagte Renate. »Ich will was mit Kindern machen und denen Lesen und Schreiben und Rechnen beibringen! Und mit denen malen und singen!«