Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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so hieß die Schutzheilige der Artillerie. Bei dem Fest gossen sich die E-Stellen-Mitarbeiter und deren Ehefrauen einen auf die Lampe. Von mir aus hätte diese neumodische Ausgeherei ruhig noch extremere Formen annehmen können. Sonst wurde man abends dauernd in die Kellerwerkstatt gerufen, um Bretter oder Nägel anzureichen oder um den Schraubstockhebel festzuhalten, wenn Papa da was zu hämmern hatte, und wehe, man machte irgendwas falsch. Dann fuhr er sofort aus der Haut: »Du stellst dich mal wieder an wie der erste Mensch!« Es ging ihm schwer gegen den Strich, daß es auch Leute mit zwei linken Händen gab.

      Was Papa baute, paßte millimetergenau zusammen, aber in der Werkstatt herrschte ein einziges Durcheinander. Wie er sich in dem Gewusel aus Kabeln, Schraubenmuttern, Schmirgelbesen, Zangen, Bürsten, Sägeblättern, Pinseln, Kanistern, Autoschrott und Spülmaschinenschläuchen zurechtfand, kapierte ich nicht.

      Den Nikolaustag versüßten mir die Fohlen zusätzlich mit einem Auswärtssieg: 1. FC Köln – Gladbach 0:4. Mehr konnte man nicht verlangen.

      Im ZDF kam dann ein Krimi über einen Mörder, der die Tat zwar in Notwehr begangen hatte, aber die Leiche lieber verschwinden ließ, als der Polizei Rede und Antwort zu stehen. Doch das Versteck wurde entdeckt, und von da an zog sich die Schlinge um den Hals des Mörders immer enger zusammen. Vielleicht wäre es cleverer gewesen, wenn er die Leiche in der Badewanne zerteilt und im Hausmüll untergewühlt hätte, vermischt mit Hühnerknochen und anderen Küchenabfällen. Dann hätte doch nie einer was gemerkt. Aber wie hätte man einen Menschenkopf zerstückeln sollen? Mit der Axt? Ijasses! Dann lieber gestehen und als Totschläger zu zwanzig Jahren Alcatraz verknackt werden, hätte ich gesagt.

      Der Hauptdarsteller hieß Edward G. Robinson. Dessen Schurkenvisage war mir schon öfter begegnet. Mit so ’nem Gesicht hatte der in Hollywood wohl nie die Chance gehabt, einen von den Guten zu spielen. Oder wenigstens jemanden ohne leichengepflasterten Lebensweg.

      Für seinen nächsten Brief hatte Michael sich eine Anrede ausgedacht, die ich ihm heimzuzahlen gedachte.

       An Martin, den mausigen Mopshund von Meppen!

       Du wirst sicher sauer sein, daß ich erst so spät schreibe, aber ich habe eine Entschuldigung. Erstens mal hab ich schon einen Brief geschrieben, aber den konnte ich mangels 2 DM fürs Portoheftchen und aus Faulheit nicht abschicken, und zweitens … aber das erzähle ich ja jetzt: Ich habe also endlich 2 DM zusammengeknausert und sie auch in ein 2-DM-Stück umgetauscht, gehe zum Apparat, werfe das Geld ein und ziehe – nichts. Ich drücke auf den Knopf mit der sinnigen Aufschrift »Bei Versagen drücken«, aber wieder nichts. Da es ohnehin schon kurz vor 5 ist, warte ich auf den Postbeamten, der den Briefkasten leeren soll. Um Viertel nach 5 stehe ich bei klirrender Kälte immer noch da, und der Briefkasten ist immer noch voll. Also gehe ich nach Hause und muß morgen zur Post nach Vallendar und eine eidesstattliche Erklärung abgeben, daß das auch stimmt mit den 2 DM. Bloß – wie komme ich da runter? Zum Gehen habe ich keine Lust, und fürs Fahrrad ist es zu kalt. Also wirst Du Dich noch ein wenig gedulden müssen, bis Du diesen Brief in die Tatzen kriegst. Denn wo soll ich das Geld für die Briefmarke hernehmen? Na, ich werde mal versuchen, morgen doch zum Postamt zu gehen und mir meine zwei Mark zu holen. Ob ich’s wohl schaffe? So, wie Du mich kennst, sicher nicht.

       Heute ist morgen (das da oben habe ich gestern geschrieben). Gerade eben ist wieder was mit Jakob gewesen. Holger und ich kommen von der Schule, unsere Mutter öffnet uns mit verweinten Augen die Tür und erzählt uns, daß der Jakob vor zwei Stunden von ’ner Katze gejagt worden und auf ’nen Baum geflogen ist, und die Katze ist abgehauen (die wollte gar nichts vom Jakob, die hat sogar mit meiner Mutter geschmust). Dann ist der Jakob wieder vom Baum runtergeflogen, und meine Mutter hat gedacht, der sei wieder im Käfig. War er aber nicht. Tja, Holger und ich haben uns gleich auf die Socken gemacht, leider ohne Erfolg. Na, und als wir heimkommen, wer hoppelt da in seinem Käfig? Jakob! Weiß der Teufel, wo der die zwei Stunden war. Jedenfalls isser wieder da. O lucky day!

       Sonst hat sich kein Vorkommnis zugetragen, das der brieflichen Erwähnung wert wäre (igitt).

       Tchühhühüähhäß – BLBLBL DMGS!

      Mein Antwortbrief mußte mit einer Begrüßung beginnen, die der von Michael ebenbürtig war. An Micky, den mickrigen Moppel vom Mallerer Berg oder so.

      Für Samstagabend hatten Mama und Papa Heerscharen von Gästen eingeladen, und Mama fing bereits am Mittwoch mit den Vorbereitungen fürs kalte Büfett an. Was fertig war, kam in die Tiefkühltruhe. Eine große Sache stand uns da bevor. Eine regelrechte House-Warming-Party, in Mamas Worten. Es gehe nicht an, daß sie in Meppen ihr isoliertes Leben als Hausfrau fortsetze, ohne Bekanntenkreis und alles, was dazugehöre, wenn man ein normales Leben fristen wolle, sagte sie und hantierte am Küchentisch mit dem Gurkenhobel. Immer nur Einkaufen, Kochen und Saubermachen, das sei ihr in Koblenz lange genug auf den Deckel gegangen. Hier müsse das anders werden. »Und nun tu mir die Liebe und bind dir endlich deine Schuhe richtig zu! Muß ich denn alles dreimal sagen? Und kämm dir mal die Haare! Du siehst wieder aus wie bestellt und nicht abgeholt!«

      Den Gangsterboß Al Capone hatte das FBI nur wegen Steuerhinterziehung drangekriegt, obwohl dieser Brutalinski in eine Kette von Mordfällen verwickelt gewesen war. Das sah man alles haarklein in einem Film mit Rod Steiger in der Hauptrolle. Auch noch so ein Name, den man sich merken sollte.

      »Nun danket alle Gott, daß wir keine Zustände wie in Amerika haben«, sagte Papa, als der Film zuende war.

      Die Mafia besaß in den USA noch immer große Macht, und alle wußten darüber Bescheid. Eigentlich ja kaum zu fassen, daß da eine Meute von Schwerverbrechern Millionen und Milliarden kassierte und die Polizei dagegen praktisch wehrlos war.

      Die Fohlen besuchten die Zebras vom MSV Duisburg, semmelten ihnen ein Tor rein und fuhren zurück nach Gladbach. Ätschi! Wieder eine Runde weiter im DFB-Pokal.

      Wiebke bepinselte einen Kerzenständer für Tante Therese. Ich mußte mir auch noch was einfallen lassen für meine Paten, Tante Dagmar, Tante Gertrud und Onkel Dietrich, und für Oma Schlosser und Oma und Opa Jever. Und für Mama und Papa und meine lieben Geschwister. Aber mit mehr als dreizehneinhalb Jahren konnte ich mich auch nicht mehr gut hinsetzen und Kerzenständer oder Holzlöffel bunt anmalen. Diese ewigen Kerzenständer und Holzlöffel kotzten die Verwandten höchstwahrscheinlich schon seit langem an, nur daß sich das niemand zu sagen traute.

      In den meisten Fällen, fand ich, war ein Briefchen als Geschenk genug, wenn man so wenig Geld besaß wie meiner einer.

      Auf dem Hinweg zur Schule war die Bahnschranke unten und auf dem Rückweg die Hubbrücke oben. Als ob da Dämonen am Werk wären, die mich unterbuttern wollten. Und gleich hinter der Hubbrücke knallte mir plötzlich von links ein Auto ins Rad.

      Ein Mann half mir hoch, und ein anderer sagte, er habe die Autonummer notiert. Der Fahrer hielt mit seinem Käfer erst ein gutes Stück weiter unten am Straßenrand an und stieg aus und kam angelaufen.

      Außer dem Schrecken hatte ich nicht viel abgekriegt. Das Fahrrad dafür um so mehr: Der Vorderreifen war völlig verknautscht, und das Rücklicht und der Ständer waren abgebrochen. Papa würde mir ’ne schöne Szene machen. Oder auch nicht, denn der Käferfahrer hatte mir beim Abbiegen die Vorfahrt genommen. Er fragte mich, ob ich verletzt sei, und der Mann, der mir auf die Beine geholfen hatte, pflaumte ihn an: »Was sind denn Sie für ’n Sonntagsfahrer?« Dieser Mann schrieb mir seine Telefonnummer auf, als Unfallzeuge, für den Fall der Fälle. Ich erhielt auch einen Zettel mit Namen, Adresse und Telefonnummer des Käferfahrers. Er riet mir, das Rad bei Geyer reparieren zu lassen. Das war das Fahrradgeschäft neben dem Kreisgymnasium. Die Kosten würde er mir natürlich erstatten.

      Ich war froh, daß ich mir nichts gebrochen hatte, und fast noch froher, als der ringsherum entstandene Menschenauflauf endlich wieder auseinanderging. Nicht daß ich mit diesem Scheiß noch in die Zeitung kam. An ein Lied von Ulrich Roski mußte ich dabei denken:

       Eine Hausfrau, die gern kocht, geht vorüber und sinniert,

       Ob man Menschenauflauf wohl mit