Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Leitung zogen wir in eine Kneipe um, wo Didi einen Stiefel Bier bestellte. Das war ein Bierglas in Stiefelform, und man mußte, wenn man daraus trank, gut aufpassen, daß die Luftblase aus der Stiefelspitze nicht hochpulschte und einem die Fratze bespritzte.

      Uli Möller teilte handgeschriebene Zeugnisse aus. In meinem stand:

       Training: 1

       Spiel: 1

      Na bitte! Wer sagt’s denn? Zwei Einsen hatte außer mir nur Didi. Als Prämie erhielten wir jeder einen Schokoladenadventskalender. Meinen fraß ich auf dem Nachhauseweg leer, vom ersten bis zum letzten Türchen. Die Hülle premmste ich in einen Abfallkorb, und dann wischte ich mir mit dem Handrücken den Mund ab.

      Beim Nähen hatte Mama seit neuestem ’ne Brille auf. Für diesen Friemelkram seien ihre Augen nicht mehr gut genug. Weitsichtigkeit, die komme mit dem Alter, ob einem das nun passe oder nicht.

      Oma Jever war noch schlimmer dran mit ihren Krampfadern. Papas Vater war an Krebs gestorben, Oma Schlosser litt an Gelenkbeschwerden, Tante Gertrud hatte Brustkrebs, Tante Doros Sohn Robert war Diabetiker, und Wiebke schielte. In unserer Sippe war der Wurm drin, keine Frage. Sorgen bereiteten mir selbst vor allem die weißen Flecken auf meinen Fingernägeln. Die Halbmonde unten am Nagelrand hatten die richtige Form, aber woher stammten die Flecken? Kalkmangel? Eisenmangel? Ob Mama uns alle falsch ernährte?

      Um zu gesunden, aß ich beim Fernsehen abends sechs geschälte und entkernte Äpfel, während Gregory Peck den Streit zweier Rancher um eine Wasserstelle schlichten wollte, womit er sich aber nur Prügel und Duelle einhandelte. Wenn ich nach meinen Vorlieben bei Westernhelden gefragt worden wäre, hätte ich zuerst John Wayne genannt und dann James Stewart und an dritter Stelle Henry Fonda, der in »Spiel mir das Lied vom Tod« den Bösewicht markiert hatte. Um sich mit denen messen zu können, war Gregory Peck irgendwie zu liebenswürdig. Im richtigen Wilden Westen hätte er mit dieser Masche keine drei Tage überlebt.

      Mama nahm mich zu einem Theaterstück mit, das in der Aula des Kreisgymnasiums aufgeführt wurde. Dafür hatte sich auch Frau Lohmann Zeit genommen, und wir saßen in der vierten Reihe. In dem Stück spielte ein ungerecht behandelter Pferdehändler die Hauptrolle, der aus Rache eine wilde Räuberbande gründete. Diese Bande vergewaltigte auch Frauen, und das sah dann so aus, daß eine Schauspielerin dazu gezwungen wurde, die Beine breitzumachen, und ein Bandenmitglied stellte sich demonstrativ dazwischen.

      »Also, manches ist da ja nun nicht gerade jugendfrei gewesen«, sagte Mama in der Pause zu Frau Lohmann.

      Für das Theaterstück hatte ich auf das Länderspiel gegen die Türken verzichtet. Da war der HSV-Keeper Rudi Kargus getestet worden, und er hatte seinen Kasten saubergehalten. Der Endstand – 0:5 für Deutschland – deutete zwar nicht auf Probleme im Sturm hin, aber wenn ich der DFB-Chef Hermann Neuberger gewesen wäre, hätte ich Gerd Müller trotzdem darum angefleht, die deutsche Equipe bei der Europameisterschaft zu verstärken.

      Superspät begann ein Horrorfilm. Da krallte sich der Riesenaffe King Kong im Dschungel auf einer Südseeinsel eine weiße Frau und haute mit der ab. Er wurde dann gejagt und betäubt und nach New York verfrachtet, wo er als achtes Weltwunder ausgestellt werden sollte, aber da riß er sich los und rannte Amok, kletterte am Empire State Building hoch, bis oben, wurde von Flugzeugen aus beschossen, stürzte ab und starb.

      Am vierten Advent fing ein ZDF-Vierteiler an, nach Romanen von Jack London. Elam Harnish, der Held, brach zu einer Goldgräberstadt am Klondike River auf. Um dahinzukommen, mußte er Gebirge und Ströme überqueren, und am Wegrand lagen verfaulende Wasserleichen und Pferdekadaver.

      Die erste Folge zog sich ziemlich in die Länge.

      Bis Weihnachten sei das mit dem Moped nicht mehr zu bewerkstelligen, sagte Papa, als er aus dem Keller heraufkam. Das werde Volker dann eben im Januar zum Geburtstag kriegen.

      Für Wiebke und Volker kaufte ich als Weihnachtsgeschenk ein Monopolyspiel. Mama und Papa mußten sich mit Gutscheinen für Staubsaugen und Rasenmähen begnügen und die anderen Verwandten mit schriftlichen Segenswünschen. Ich war nun mal nicht Rockefeller.

      Renate hatte Ferien bis zur zweiten Januarwoche und berichtete, daß in der Hildener Kirche das Weihnachtsoratorium gesungen worden sei. Oma Schlosser habe mitgesungen. Die war Chormitglied. Und beim Altmaidentreffen hätten Renate und noch zwei andere auf Blockflöten was von Händel vorgespielt, im Zwölfachteltakt.

      Altmaidentreffen! Bei dem Wort lief’s mir kalt den Rücken runter. Rentnerinnen, die mit Hörrohr, Dutt und Zwicker angeradelt kamen, auf ’ner Draisine womöglich, um sich das Flötengetröte in ihrer alten Landfrauenschule anzuhören …

      In Birkelbach könne man durchaus einen Internatskoller kriegen, sagte Renate. Neulich habe eine überkandidelte Frau eine Rede geschwungen, um alle Maiden von den Vorzügen eines Mikrowellenherds zu überzeugen. Damit lasse sich im Handumdrehen Gefriergut auftauen, und es fehle, wie Renate meinte, bloß noch ein Roboter, der die Mahlzeiten in zwei Sekunden auffresse.

      In Hilchenbach hätten sie ’ne Lederfabrik besichtigt, drei Stunden lang. Das sei zwar ganz interessant gewesen, und hinterher hätten sie »Fallreste« geschenkt gekriegt, aber wie es da gestunken habe! »Zweien war’s danach so schlecht, daß sie am Nachmittag im Bett geblieben sind.«

      Tischdeckamt habe sie neulich gehabt. Morgens nach dem Frühstück abräumen, Tischdecken weg, alle 91 Stühle hoch, Fußboden fegen und bohnern, mit ’nem Besen mit unwahrscheinlichem Linksdrall, gegen den kaum anzukommen sei, und dann die Stühle wieder runter, Heizungen ausmachen, staubwischen, Türfensterscheiben mit Terpentin reinigen und die Tische fürs zweite Frühstück decken. Und so gehe das da bis abends weiter.

      Wie im Zuchthaus.

      Volker und ich fuhren mit Papa los, einen Weihnachtsbaum kaufen, und dann sahen wir auf der Umgehungsstraße einen liegen, auf der Gegenfahrbahn. Der war wohl von irgend ’nem Laster gepurzelt.

      An der nächsten Abfahrt machte Papa kehrt. Über das Verbot, auf der Umgehungsstraße anzuhalten, setzten wir uns hinweg. Papa zwängte den Baum in den Kofferraum, und die Sache war erledigt, auch wenn wir im Schrittempo zurückfahren mußten, mit offener Kofferraumklappe. So billig waren wir noch nie zu einem Weihnachtsbaum gekommen. Und wir hatten sogar noch ein gutes Werk getan, denn auf der Umgehungsstraße hatte der herumfliegende Baum ja eine Unfallgefahrenquelle erster Güte gebildet.

      In der Kellerwerkstatt spielten Papa und Renate mit dem Goldhamster, den Wiebke kriegen sollte, aber der Hamster spielte nicht mit. Der wollte sich nicht streicheln lassen, sondern immer nur weg. Er beschnüffelte die Lötbrille auf Papas Werkbank, schmiß ein Marmeladenglas mit Nägeln um und versuchte dann, ein Schraubenregal zu erklimmen.

      Hamster waren nachtaktive Tiere und pennten am Tag. Die zwei Lebensjahre, die Wiebkes Hamster Pepik bevorstanden, würde er größtenteils in dem Käfig zubringen müssen, den Mama und Papa gekauft hatten, mitsamt Häuschen, Schlafwatte, Laufrad, Trinkröhrchen, Freßnapf und Spreu. Und das alles ohne Weibchen und auch ohne andere Hamsterkumpel. Total allein, mit Wiebke als einziger Spielgefährtin, die ihm nachts nur was vorschnarchen würde, wenn er sich austoben wollte, so wie einst seine Ahnen im syrischen Wüstensand. Jeder Hund hätte es bei mir besser gehabt als Pepik bei Wiebke.

      »Die geht morgen sicher gar nicht ins Bett, wenn sie den Hamster hat«, sagte Renate.

      Früher hatte ich mir an Heiligabend schon morgens ein Loch in den Bauch gefreut und war den ganzen Tag über von Vorfreude erfüllt gewesen. Jetzt, in Meppen, sollte ich den Weihnachtsbaum festhalten, als Papa die Schrauben in den Ständer zwirbelte. »Halt das Scheißding senkrecht!« belferte Papa, während er unten die Schrauben anzog.

      Das Ergebnis mißfiel ihm. »Hast du keine Augen im Kopp? Das soll doch nicht rumhängen wie so ’n Lämmerschwanz! Dreh du jetzt mal die Schrauben wieder raus, und ich kümmer mich um den Baum!«

      Die Schrauben hatte Papa so weit reingewürgt, daß ich mir beim Herausdrehen fast die Finger brach. Dann schrie Papa nach Volker, der sich im 90-Grad-Winkel zu Papas