Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Papa brachte seinen sattsam bekannten Schnalzlaut zu Gehör. »Mehr nach links von wo aus gesehen?«

      »Von mir aus gesehen«, sagte Volker. »Aber nicht ganz so weit! Wieder ’n Stücksken zurück! Stop! Wieder mehr nach links! Stop! Zu weit! Wieder mehr nach rechts! Stop!«

      O selige Kinderzeit, als man für solche Aushilfsarbeiten noch zu klein gewesen war.

      Mama holte den Karton mit den Christbaumkugeln vom Dachboden. Alle Jahre wieder.

       Steht auch dir zur Seite, still und unerkannt,

       daß es treu dich leite an der lieben Hand.

      Eigentlich ja ganz anheimelnd, die Vorstellung, von einem unsichtbaren Christkind begleitet zu werden, wenn man so einsam wie üblich durchs Leben ging.

      In der rappelvollen Gustav-Adolf-Kirche predigte Pastor Böker über Johannes 15,1: Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Rhabarber, rhabarber. Wenn Jesus der Weinstock sei, dann seien wir die ihm vom Gärtner anvertrauten Reben, und wir sollten grüne, frische und gesunde Reben sein!

      Einen Hund kriegte ich zwar nicht, aber einen Lederfußball, eine Taschenlampe, Franz Beckenbauers Buch »Einer wie ich«, zehn Mark und ’ne Tafel Schokolade aus Jever, zwanzig Mark von Tante Gertrud, zwanzig Mark von Onkel Dietrich und von Tante Dagmar einen Schokoladenweihnachtsmann und einen Gutschein für ihr altes Fahrrad. Das könnten wir bei unserem nächsten Besuch in Jever abholen.

      Wiebke schmuste mit ihrem Goldhamster, der ihr wichtiger war als der Pelikano aus Jever, die Büx und das Strickpüppchen von Tante Therese und Oma Schlossers Federmäppchen mit Knipsverschluß.

      Mama hatte der Weihnachtsmann einen neuen Dampfkochtopf und einen neuen Toaster beschert sowie Handtücher, Henkelbecher und Marzipan. Renate hatte von Tante Grete eine Dokumentenmappe und eine Honigkerze abgesahnt, die einen pestilenzialischen Gestank verströmte. Was Volker eingeheimst hatte, erfuhr man nur am Rande. Knete ohne Ende hauptsächlich.

      Von Olaf hatte Renate eine Grußkarte mit Snoopy vornedrauf erhalten: »Wenn du am Weihnachtsabend ein Singen und Klingen aus der Luft hörst, dann weißt du, was das bedeutet!« dachte Snoopy, und wenn man die Karte aufklappte, dachte er grinsend: »Du hast zuviel getrunken!« Snoopy hatte immer nur Gedankenblasen.

      Für Papa hatte Oma Schlosser eine steinalte Predigt von Opa Schlosser ausgegraben und kopiert, die er 1921 in Altenbochum gehalten hatte, als Synodalvikar, was immer das war. Die Handschrift konnte man nur mit Mühe entziffern.

       Wir stehen unter dem schrecklichen Gericht Gottes, unter seiner schweren züchtigenden Hand … Die Zukunft malt sich in vieler Augen wie in todesahnungsvolle Dämmerungen gehüllt … Wenn wir um uns schauen, dann sehen wir noch heute die Götzen triumphieren … Redet nicht Gott wider uns mit Donnerworten?

      Weil die Christbaumkerzen nicht genug Licht hergaben, machte ich meine Taschenlampe an und las in dem Buch von Franz Beckenbauer, und da schnauzte Papa mich an: Das sei Stromverschwendung.

      Von dem Hamster war Mama schon einigermaßen bedient. Der hatte sich unterm Klavier verschanzt und ließ sich auch mit Vitakraftkörnern nicht wieder hervorlocken.

      Am ersten Weihnachtsfeiertag bereitete Mama einen Schweinerollbraten im Römertopf zu. Der leckere Geruch schlingerte bis ins Wohnzimmer, wo Volker, Wiebke und ich Monopoly spielten. Die Regeln mußte man Wiebke leider dauernd neu erklären.

      Volker hatte sich in den Besitz der Prinzenstraße und der Schloßstraße gebracht. Ich besaß nur die Elisenstraße, die Chausseestraße und das Wasserwerk, und Wiebke, die außer der Badstraße noch überhaupt nichts ihr eigen nannte, mußte laufend ermahnt werden. »Wiebke! Du bist dranne! Würfel doch mal endlich!«

      Wiebke hatte nur für ihren Hamster Augen. Immer, wenn er eingeschlafen war, grabbelte sie ihn aus seinem Häuschen heraus und verpaßte dem armen Vieh neue Streicheleinheiten.

      »Vorsicht! Heiß und fettig!« brüllte Volker, als er den Römertopf ins Eßzimmer trug.

      Renate erzählte Witze. Zwei Tomaten fliegen nach Cuxhaven. Sagt die eine: »Vorsicht, da kommt ein Hubschraub-schraub-schraub-schraub …«

      Der war so ähnlich wie der Witz von dem verliebten Regenwurm, der über die Wiese kriecht und singt: »Chanson d’amou-hu-hur«, und dann kommt der Rasenmäher: »Ra-tatta-tatta …«

      Weshalb heißt der Löwe Löwe? Weil er durch die Wüste löwt.

      »Kannst du nicht mal mit dem Schmatzen aufhören?« fragte Papa mich. »Da kriegt man ja Zustände, wenn man neben dir sitzt!«

      Die Amerikaner, sagte er, fräßen alle rund um sich zu. Das schiere Fett, wenn’s sein müsse. Nur die Juden und die Moslems äßen kein Schweinefleisch. Da wären vielleicht mal Trichinen drin gewesen, und die Leute, die davon gegessen hätten, wären reihenweise gestorben, und dann hätten die Leute daraus die Lehre gezogen, kein Schweinefleisch mehr zu essen, und um dem Volk die neue Vorschrift einzubimsen, hätten sie ein religiöses Gebot daraus gemacht.

      Franz Beckenbauer regte sich in seinem Buch darüber auf, daß sein älterer Bruder als Teenager zu nachtschlafender Zeit in Schwabing auf Achse gewesen sei, zwischen Bars und Striplokalen, und daß er Mädchen abgeküßt habe.

       Als mein Bruder in sein Bett kroch, wurde ich wieder wach. Es roch nach irgend etwas Bitterem.

       »Das stinkt«, nörgelte ich.

       »Das ist Bier, du Depp.«

       Dann schnarchte er bald.

       Ich stellte mir plötzlich vor, daß aus dem gleichen Erdboden eine Blume, aber auch eine Brennessel hervorsprießen kann. Sollte etwa mein Bruder eine Brennessel sein?

      Ach du Schande. Der biersaufende Bruder als Brennessel und der unschuldige Franz als Blume? Und sowas schimpfte sich Kaiser! Da hatte ich schon fast keine Böcke mehr zum Weiterlesen, aber ich überwand mich, und das war gut, denn sonst hätte ich nie erfahren, daß Beckenbauer einmal von Pelé getunnelt worden war und daß Jürgen Neumann, Uwe Klimaschweski und Otto Rehhagel nach Beckenbauers Ansicht zu den härtesten Spielern der Bundesliga gehörten. Gerd Müller habe sich einmal darüber beklagt, daß ihm die Schienbeine bereits wehtäten, wenn der Trainer nur diese Namen nenne.

      Den neuen Ball probierte ich im Garten aus und kriegte gleich eine gelangt, weil ich ’ne Pflanzenstaude umgeschossen hatte.

      Mama erlaubte mir, Michael Gerlach anzurufen, und ich schlug ihm vor, ein Damespiel per Brief zu beginnen. Dann holte ich mir von Wiebkes Kleiderschrank den Stern mit den nackten Negerinnen runter und verhängte das Schlüsselloch der Klotür von innen mit einem Handtuch, zur Sicherheit.

      In dem Film »Die Kaktusblüte« spielte Walter Matthau einen Schürzenjäger, der allen möglichen Frauen den Kopf verdrehte. Da lachte sich selbst Papa schief, aber als der Film vorbei war und die Weihnachtsbaumkerzen wieder angezündet werden sollten, hörte der Spaß auf: »Die oberen zuerst, du Rindvieh!«

      Mama erinnerte sich noch gut an den Tod von Oma Thoben, Oma Jevers Mutter, die einen Tag vor Heiligabend gestorben war. »Das war vielleicht ’n Weihnachtsfest!« Und bei Opa Thobens Tod sei das Pendel der Uhr auf dem Wohnzimmerbüfett stehengeblieben, wie von einer Gespensterhand angehalten. Und er habe das Uhrwerk noch am Abend davor selber aufgezogen.

      Am zweiten Weihnachtsfeiertag fuhren wir zu sechst im Peugeot nach Jever. Papa wollte Tante Dagmars altes Fahrrad abholen, für mich, und für sich selbst die große alte Eisenbahnplatte, die er mal für Gustav gebaut hatte, als der noch klein gewesen war.

      In Papenburg hießen die Querstraßen »Hauptkanal links« und »Hauptkanal rechts«. Die armen Kinder, die da wohnen mußten. Die sehnten sich wahrscheinlich nach ’ner Großstadt wie Meppen.

      Eine Weile fuhr ein Opel mit dem Kennzeichen LER vor uns her. Der kam aus Leer.

      »Nun