Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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hatte ich aufgegeben.)

      Spinnen seien nützliche Insektenjäger, sagte Horst Stern, und manche Spinnenmütter würden den eigenen Körper selbstlos als Nahrung für ihren Nachwuchs opfern. Man konnte sehen, wie eine Spinne ihr Netz spann, in Zeitlupe, und es gab auch rasterelektronenmikroskopische Vergrößerungen. Wie die Spinnen ihre Beute überwältigten, vergifteten und aussaugten und wie eine Spinne der anderen ein eingesponnenes Opfer raubte. Die Schwarze Witwe fraß ihr Männchen nach der Kopulation einfach auf. Raps, haps! Ich hätte kein Männchen einer Schwarzen Spinne sein wollen. Rund fünfzigtausend Spinnspulen saßen am Unterleib eines Spinnenwinzlings, nebst den dazugehörigen Spinndrüsen.

      »Mit diesen Viechern kannste mich trotzdem jagen«, sagte Wiebke, und Mama stimmte ihr zu.

      Renate erzählte von dem ZVS-Kram, den sie den ganzen Tag gemacht hatte. ZVS: Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen. Das sei eine Arbeit für Idis. Für den Computer müsse sie schreiben, daß sie nicht Primarstufe Mathe und Deutsch studieren wolle, sondern 123219, und nicht in Bielefeld, sondern in 345, und sie selbst sei unter der Nummer 51247091 gespeichert. »Den gesamten Mist schick ich morgen ab, dann hab ich eine Sorge weniger.«

      Sie wollte irgendwann am selben Ort studieren wie Olaf.

      Während Wiebke ihren Hamsterkäfig säuberte, nahm ich Pepik in Obhut und hatte nachher meine liebe Not damit, das Biest in meinem Zimmer wieder einzufangen. In dem schmalen Luftraum zwischen Kleiderschrankrückseite und Wand hatte Pepik sich zwei Meter hoch bis auf die Oberseite des Schranks gezwängt und benagte dort ein staubiges Teddy-Heft aus Renates Beständen.

       Wenn die Bettelleute tanzen,

       wackeln Kober und der Ranzen …

      Wie war denn dieses alte Heft überhaupt dahinauf gelangt?

      Am allerletzten Tag des Jahres brachte mir der Postbote noch einmal einen Brief von Michael, mit Spätnachrichten über eine Wanderung, die er mit Holger unternommen hatte:

       In Simmern fanden wir einen alten Autoreifen. Und weil’s von da oben so schön abwärtsgeht auf dem Asphaltweg, sind wir dauernd hinter dem Ding hergerannt. Der Holger hat irgendwann nicht mehr gekonnt, weil er zu kleine Schuhe anhatte und ihm die Füße wehtaten vom vielen Gegen-den-Reifen-Treten. Ich bin aber noch mit letzter Kraft hinterher, und da ist mir erst eingefallen: Wenn jetzt einer da hochkommt, der wird ja kaputtgefahren. Also beschleunigte ich meinen Lauf. Der Reifen aber auch. Und weil dann die Kurve kam und links vom Weg der Abhang anfing, machte der Reifen einen gewaltigen Hopser über die Bank und entschwand meinen Blicken, indem er den Abhang runterrollte. Auch da unten ist ja ein Weg, und somit wurde die Lage immer kritischer. Holger kam inzwischen auch, und er ärgerte sich grün und blau über meine Doofheit, dem Reifen noch hinterherzulaufen. Wenn nun wirklich jemand den Weg hochgekommen wäre, dann hätte der Holger schnell entwischen können, aber ich? Wir schauten dann erstmal den Abhang runter. Zum Glück war der Reifen gegen einen Baum geknallt und lag friedlich davor und döste. Holger und ich sind hin und haben den Reifen den restlichen Abhang runterrollen lassen und platsch in den Wambach, da, wo mal unser Staudamm war. Ja, war, denn er ist nicht mehr. Da befindet sich bloß noch ein riesiger Gulli. Wir haben den falschen Staudamm eingefetzt und einen notdürftigen neuen an die richtige Stelle gesetzt.

       So, das war’s aus dem DMGS-Studio.

       Tschüß! Michael

       P.S.: F6 auf E5 (ich nehme Weiß).

      Renate war nach Koblenz abgereist, zu ihrem heißgeliebten Olaf, und auch Volker war aushäusig. Der ließ irgendwo bei einer Silvesterparty die Puppen tanzen.

      Im Eßzimmer servierte Mama Kartoffelsalat mit Bockwürstchen, und danach gab es Bowle. Ich durfte daran nippen und hatte gleich nach dem ersten Schluck einen Fremdkörper in den Kusen hängen.

      »Sind da Schrauben drin?« fragte ich, und Papa brach in Gelächter aus: Ja, selbstverständlich würde Mama uns Schrauben in die Bowle schmeißen! Und dann schüttelte er sich wieder vor Lachen.

      Was sich in meinem Gebiß verfangen hatte, war eine Gewürznelke. In der Bowle schwammen noch mehr von der Sorte, und jedesmal, wenn Papa wieder eine herausgefischt hatte, sagte er, daß er ’ne Schraube geangelt habe, und dann war er wieder am Grinsen und Gnittern.

      Auch mal ganz schön, den eigenen Vater zum Lachen zu bringen, aber ich hatte wirklich gedacht, daß ich auf ’ne Schraube gebissen hätte.

      Zu späterer Stunde entbrannte zwischen Mama und Papa ein Streit über unser Verhältnis zu den Katholiken. Daß die hier in der Überzahl seien, fechte ihn nicht an, sagte Papa. »Wenn ich keine Katholiken mehr sehen will, mach ich einfach die Tür hinter mir zu, und dann hab ich meine Ruhe vor denen!«

      »Wenn sie nicht gerade die Glocken läuten«, sagte ich.

      »Das tun auch die Protestanten«, sagte Papa. Ein Schwachsinn sei das, dieses Glockengebimmel im Zeitalter der Armbanduhr. Da könne man auch Nachtwächter losschicken, wie im Mittelalter, und die alle halbe Stunde mit der Hellebarde auf die Fensterläden wummern lassen: »Hört ihr Leut, und laßt euch sagen, uns’re Uhr hat eins geschlagen …«

      In Friesland, unter ihresgleichen, würde sie sich trotzdem wohler fühlen, sagte Mama.

      Prosit Neujahr.

      Alle waren noch am Filzen, als ich das Wohnzimmer morgens nach Salzgebäck durchflöhte, aber Mama hatte jeden Krümel abgeräumt.

      Was das neue Jahr mit sich brachte, war die Anschnallpflicht im Auto: »Erst gurten – dann starten.«

      Früher waren wir immer wie die Affen hinten im Käfer herumgeturnt auf den langen Reisen nach Jever und sonstwohin. Damit war es nun vorbei.

      In einem Film, der im Ersten lief, verliebte sich ein junger Spund in eine Omi. Das war überhaupt ein merkwürdiger Mensch. Der tat so, als hacke er sich eine Hand ab, ganz lässig, um die Leute zu schocken, und dann war das nur ein künstlicher Stumpf.

       Well, if you want to sing out, sing out,

       And if you want to be free, be free …

      Harold and Maude. Der Irre und die Alte.

      Übers Emsland heulten Orkanböen hinweg. Die Hase führte Hochwasser, und im Garten bog sich die hohe Birke im Wind. Zum Raufklettern hätte man bei der leider ’ne Leiter gebraucht.

      Den ersten Satz in den Bedankemichbriefen für die Weihnachtsgeschenke durfte man nicht mit »Ich« anfangen, weil das unhöflich war.

      Draußen regnete es Bindfäden, und im Elternschlafzimmer leckte die Heizung.

      Bei Ceka hatte Mama einen von Renate zum Entwickeln gebrachten Film mit Birkelbachfotos abgeholt: Renate mit Schürze, beim Fegen, beim Kochen und beim Gackern, mit ’ner Freundin im Arm.

      In den Umschlag meines Briefs an Michael steckte ich einen von Silvester übriggebliebenen Ladykracher. Mein Damezug: E3 auf D4.

      In der Küche pinnte Mama mit Stecknadeln einen Jahreskalender an die Wand, dessen Vorderseite bis Juni reichte. Gelb markiert waren die Ferien- und Feiertage. Bis zu den Osterferien war’s noch entsetzlich lange hin. Und weil 1976 ein Schaltjahr war, hatte der Februar einen Tag mehr als üblich. Also gab’s auch einen Schultag mehr, auch wenn der 29. 2. auf einen Sonntag fiel. Sonst wäre eben am 1. 3. schulfrei gewesen.

      Die wichtigsten Geburtstagstermine hatte Mama mit Kugelschreiber eingetragen.

      Seit er das Leben in der Freiheit kennengelernt hatte, nagte Wiebkes Hamster jede Nacht wie blöd am Käfiggitter, statt in seinem Rad herumzubösseln. War ja auch das Letzte, so ’n Hamsterrad. Das arme Tierchen. Zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt, in einem engen Käfig in einem pupsigen Mädchenzimmer, ohne Prozeß, ohne Rechtsbeistand und ohne Aussicht auf Begnadigung, aber mit Wiebke als Gefängnisdirektorin! Eingebuchtet wie der Freiherr von der Trenck in dem einen Film.