Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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strotzen. Wohin ich in dem Moment kuckte, blieb den anderen verborgen, weil ich es mir zur Angewohnheit gemacht hatte, Filme abends von einem aus Papas Arbeitszimmer geholten und etwas abseits plazierten Sessel aus anzusehen. Den mußte ich zwar allabendlich ins Arbeitszimmer zurücktragen, aber ich brauchte nicht mehr mit Wiebke um die Sitzordnung auf dem Sofa zu rangeln und hatte freie Sicht auf den Bildschirm.

      Zwei unrasierte Berserker von Schnebeck dübelten in der Küche den abgestürzten Hängeschrank an die Wand, was ja wohl auch Zeit wurde. Hauruck! Sie hatten Schneetupfer im Haar und jeder einen Zollstock außen in der Hosentasche, und sie rochen nach Bier.

      Eines Tages würde auch ich mir meine Brötchen selber verdienen müssen.

      Kein Handwerker werden, das war meine Devise. Bibliothekar, Paläontologe oder Museumsdirektor, aber bitte nicht Handwerker! Tag für Tag die schrillsten Bohrgeräusche zu erzeugen und in anderer Leute Wohnungen lecke Abflußrohre flicken, unter der Anleitung eines Meisters mit Keuchhusten und Kacklaune?

      Der letzte Schrei in Meppen war ein Gymnastikkurs für Damen mittleren Alters. Da gingen Mama und Frau Lohmann hin, einmal die Woche, um beim Turnen abzuspecken, bei Klimmzügen und Grätsche.

      Michael beehrte mich mit einem neuen Brief, in dem er mir mitteilte, daß die Rodelstrecken alle schön viel Huppel hätten.

       Man kann von der Ecke Sebastian-Kneipp-Straße/Josef-Görres-Straße bis runter ins Wambachtal fahren. Holger und ich haben auch versucht, von dem Asphaltweg hinterm Bauernhof runterzukacheln, und wir haben einen tollen Zahn draufbekommen, doch dann hat sich das Verhängnis in Form einer Bodenwelle bemerkbar gemacht, und wir sind beide runtergeflogen vom Schlitten. Batsch! Danach kriegten wir wieder etwas Tempo, aber dann blieben wir in einer Autospur hängen.

       Genug geschrieben. Dame: C7 auf D6.

      C7 auf D6? Ob das eine taktische Finte war? In meinem Zimmer baute ich das Damefeld neu auf. Den Gegenzug mußte ich mir gut überlegen. Da saß ich in meinem Zimmer auch zur Teestunde noch dran, als Mama mit der Nachricht hereingeplatzt kam, daß ich am letzten Januarwochenende nach Vallendar fahren dürfe, zu Gerlachs: Am Freitag mit Papa hin und am Sonntag zurück mit Olaf in dessen VW-Bus. Das Prozedere müsse aber noch etwas genauer abgesprochen werden mit Michaels Eltern.

      Ich dachte, ich werd’ nicht mehr. Nach Vallendar! Und nächste Woche schon! Das war die beste Nachricht meines Lebens!

      Mama telefonierte mit Michaels Mutter, und die hatte keine Einwände.

      Kaum zu fassen. Das Wambachtal würde ich wiedersehen, in Begleitung von Michael, und wir könnten zum Fernsehturm wandern, wie früher! Oder zur Sporkenburg fahren!

      Gegen Gladbach hatten die überheblichen Lauterer auch zuhause keine Chance und steckten drei Treffer ein, ohne Gegentor.

      Zum Schutz gegen die Schweinekälte zog ich mir morgens die Kapuze eng über die Birne und schlang mir meinen Schal um den Hals und ums Maul, und trotzdem war ich spätestens am Bahnübergang durchgefroren im Gesicht, und meine Nase fühlte sich an, als ob ich da Hammerschläge draufgekriegt hätte.

      Der Holzmüller und der Miesowski hatten sich darauf spezialisiert, Schülern eine zu knallen, die sich die Mütze ausgezogen hatten, von hinten, voll auf die rotgefrorenen Ohren. Auch ich war einmal erwischt worden, und da hatte ich die Englein singen gehört. So als ob meine Ohren aus Porzellan gewesen und in Scherben gegangen wären.

      Als der Holzmüller und der Miesowski in Franz beide eine Sechs geschrieben hatten, gönnte ich denen das von Herzen.

      Ich selbst hatte nur ’ne Drei minus.

      Mama schleifte mich zu einer Elternprotestdemonstration gegen den Unterrichtsausfall, die in der Meppener Innenstadt stattfand. Das sei auch in meinem eigenen Interesse, sagte Mama, denn es müsse ja nun wirklich mal ein Ende haben mit dieser Dauermisere. Ich konnte nur hoffen, daß mich keiner meiner Mitschüler dabei erblickte, wie ich da vorm Meppener Rathaus als Demonstrant für mehr Schulunterricht eintrat.

      Am Wochenende wollte Mama Renate in Birkelbach besuchen und telefonierte deswegen mit ihr und war tödlich beleidigt, als Renate ihr sagte, daß sie schon mit Olaf verabredet sei.

      »Du und dein Olaf!« rief Mama. »Denkst du überhaupt noch mal an uns? Oder betrachtest du deine Eltern als reine Zahlemänner?«

      Papa kam die Kellertreppe hoch, und ich verdrückte mich in mein Zimmer.

      »Die Gerlachs haben’s ja wohl nicht so dicke, mit ihren sechs Kindern«, sagte Mama. Sie mußte, weil die Waschmaschine mal wieder kaputt war, alle Sachen von Hand waschen, in der Badewanne. »Und wenn der Vater da nun auch noch arbeitslos ist …« Ich solle mich bloß zurückhalten bei den Mahlzeiten. Und ob ich überhaupt hindürfe, das hänge noch von meinen Noten ab.

      Mein Zeugnis war nicht überragend, aber es ging so. Reli 3, Deutsch 2, Geschichte 3, Erdkunde nicht erteilt, Englisch 2, Französisch 3, Mathe 3, Biologie nicht erteilt, Musik nicht erteilt, Kunst nicht erteilt, Werken nicht erteilt, Sport 2.

      Wiebke hatte auch nur Zweien und Dreien, bis auf eine Vier in »Sachunterricht«. Was war denn das für ’n Fach?

      In dem Reisekoffer, den Mama vom Boden geholte hatte, brachte ich als erstes meinen Fußball unter. Als Geschenk für Michael und dessen Geschwister verstaute Mama eine Dose Quality Street in dem Koffer und eine Packung Pralinés für Michaels Mutter und dazu noch ’ne dicke Salami: »Die gibst du Frau Gerlach«, sagte Mama, »und dann sagst du der, daß das ein Gruß aus dem Emsland ist! Hast du mich verstanden? Was sollst du sagen?«

      Im Fernsehen kam an dem Abend zum letzten Mal Der Kommissar, mit Erik Ode in der Hauptrolle. Der hieß eigentlich Odemar mit Nachnamen und hatte den abgekürzt, um nicht mit seinem Vater verwechselt zu werden, Fritz Odemar, der auch ein bekannter Schauspieler gewesen war, in der Stummfilmzeit.

      Über alles das wußte Mama Bescheid.

      Ganz so schön, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es in Vallendar nicht. Beim Schlittenfahren im Wambachtal bekam ich Eisfüße in meinen Gummistiefeln, und beim Abendbrot traute ich mich kaum irgendwas vom Tisch zu nehmen, weil die Gerlachs so kinderreich und so arm waren. Als ich mir eine Brotschnitte herausgriff, sagte Michaels Vater: »Siehste mal, das sind die wahren Gourmets! Die lassen die Kanten liegen und bedienen sich bei den Filetstücken!«

      Von da an suchte ich mir nur noch Kantenstücke raus.

      Michael und ich bauten das Damefeld auf, um unser Spiel fortzusetzen. Ich: G3 auf F4. Michael: E5 schägt F4. Weiter kamen wir nicht, weil ich aus Versehen ans Brett stieß, so daß alle Steine verrutschten, und zum Neuaufbauen hatte keiner von uns Lust.

      Schlafen durfte ich im selben Zimmer wie Michael, und wir unterhielten uns noch lange über unsere Alten, über die Schule und übers Spurenlesen. Was die Jäger für komische Ausdrücke hätten: Geläuf, Geäfter und Gehörn. Der Vater von einem Mitschüler von Michael war Jäger, daher wußte Michael das. Blut würden die Jäger »Schweiß« nennen, Augen »Lichter«, Ohren »Löffel«, Hufe »Schalen«, Hasenhinterläufe »Sprünge« und Scheiße »Losung«.

      Weidmannsdank und Weidmannsheil.

      Und das war es dann auch schon. Für die Heimreise, die in Olafs klöterigem VW-Bus vonstatten ging, hatte ich mir von Michael eine der drei Kladden mit seinen Gedichten ausgeliehen.

       Ich habe eine Hose,

       die hat Löcher große,

       doch eine Hose ist sie keine,

       denn sie hat nur noch ihre Beine.

      Und dazu ’ne Bleistiftzeichnung von einem Trollo mit Fragezeichen über der Birne, der die abgerissenen Beine seiner Hose hochhält.

      Geborgt hatte ich mir auch ein Buch mit heiteren Geschichten aus dem Leben des Pechvogels Alfons Zitterbacke. Das war ein Junge, dem in einem fort sein Wellensittich