Damezug: H2 schlägt G3.
Den Tee, den ich mir selber braute, gab es in Blechbüchsen bei Comet zu kaufen. Sir Winston Finest Broken Orange Pekoe. Einmal rammte ich da beim Hineingehen aus Versehen einem kleinen Mädchen hinter mir das Drehkreuz an den Dassel. Das Mädchen heulte los, und der Vater blaffte mich an: »Können Sie denn nicht aufpassen?«
Walther liebte sein Leben, war meist unbeschwert,
und wenn er mal was machte, machte er’s meist verkehrt …
Aber immerhin: Der Mann hatte mich gesiezt.
In einem dreieinhalbstündigen Monumentalfilm konnte man sehen, wie Deserteure aus der Armee, mit der Napoleon Rußland erobern wollte, füsiliert wurden. Da gab es kein Pardon, und wenn sie noch so heulten und jammerten. Die wurden an die Wand gestellt und abgeknallt: »Feuer!«
Mit seinem Rußlandfeldzug war Napoleon gescheitert. Was hatte der da überhaupt gewollt? Hätte er die Russen nicht in Ruhe lassen können? Wenn man im Diercke-Atlas Frankreich mit Rußland verglich, ging einem auf, wie unsinnig der Angriff gewesen war. Oder Deutschland später: Ein Pipiländchen wie unseres attackiert ein dreihundertmal so großes! Kein Wunder, daß wir den Zweiten Weltkrieg verloren hatten.
In Konfi ritt Pastor Böker auf Septuagesimä, Sexagesimä und Pentateuch herum, bis man’s nicht mehr hören konnte, und im Training verstauchte ich mir den linken Fuß. Meinen guten. Ich humpelte in die Kabine, setzte mich, entknotete das Schnürband und zog vorsichtig den Schuh aus.
War das Gelenk geschwollen? Verdickt?
Mama und Papa hatten abends wieder einmal Gäste. Das mußte Mama irgendwie durchgeboxt haben. Drei Dödel von der E-Stelle mit ihren weiblichen Ehefregatten, und alle waren im Wohnzimmer wie die Schlote am Qualmen und Salzstangenfressen. Salzstangen kaufte Mama sonst nie.
Im Zweiten fing eine neue Serie an, mit einem Rechtsanwalt, der am Wüstenrand in einem Wohnwagen hauste und sich gleich in seinem ersten großen Fall mit dem Sheriff und dem Staatsanwalt anlegte. Petrocelli. Mama fand den gut, und damit war die Frage, welches Programm wir in den nächsten Wochen freitagabends einschalten würden, entschieden.
Um Renate einzuschärfen, was sie für die Haushaltsführung wissen mußte, fuhr Mama nach Birkelbach, während Gladbach im Duisburger Wedaustadion in der 27. Minute durch ein Tor von Allan Simonsen in Führung ging, aber Bernard Dietz und Ronald Worm sicherten Duisburg einen Halbzeitstand von 2:1. Den Ausgleich erzielte Rainer Bonhof in der 71. Minute durch einen Foulelfmeter, und kurz vorm Abpfiff schlug ein Spieler zu, dessen Torgefährlichkeit die Zebras leichtfertigerweise unterschätzt hatten: Berti Vogts! Vielleicht war das der Treffer, der Gladbach am Ende die Meisterschaft bescherte, wenn es noch einmal eng werden sollte.
Menschenskinder, dachte ich. Wie klasse Berti Vogts sich jetzt wohl fühlte! Und Papa brüllte: »Bring das Scheißfahrrad nach unten!«
Am Sonntagnachmittag kam Mama wieder, kochte Tee und servierte Butterkuchen dazu. In Birkelbach, erzählte sie, habe sie sich »den Jokus erlaubt«, an einem Tanzvergnügen in Renates Landfrauenschule teilzunehmen. »Wann komm’ ich als vielbeschäftigte Hausfrau sonst schon mal zum Tanzen?« Mit Papa, dem alten Muffkopp, sei das ja leider nicht möglich. Hier mal auszugehen am Wochenende, daß man mal so ’n bißchen unter die Leute komme – Pustekuchen!
Schön sei das gewesen. Erfrischend. Mal was anderes als der ewige Haushaltstrott. »Die Männer allesamt Soldaten, von der Luftwaffe, und einer hat mich rumgewirbelt, da wär mir bald schlecht geworden«, sagte Mama. »Zum Schluß wär das noch fast zum Remmidemmi ausgeartet, aber irgendwann ist Zapfenstreich gewesen. Die führen da ein eisenhartes Regiment in Renates Schule, und das ist auch bitter nötig! Wenn die das nicht täten – da möcht’ ich lieber nicht dran denken, was da alles vorkommen würde …«
Um sechs rief Oma Jever an und bekniete Mama telefonisch, sich die Reise nach Südwestafrika aus dem Kopf zu schlagen. Erst letzte Woche hätten angolanische Terroristen ein deutsches Farmerehepaar ermordet.
Den neuen Damezug hatte Michael ganz am Ende eines Briefs untergebracht, den ich am Montagmittag erhielt.
Heißassa!
Da bin ich wieder, mit den allerneuesten Nachrichten! Hier passiert wie immer das Übliche – nüscht. Wenn ich zu Hause bin, mache ich Hausaufgaben, spiele ein bißchen Geige, glupsche fern und langweile mich. Das ist überhaupt meine Lieblingsbeschäftigung.
Unserm Jakob haben wir ein neues Klettergerüst gekauft. Anscheinend hat er sich daran gewöhnt, im Gegensatz zu mir – das Ding stinkt nämlich bestialisch. Uääh, das haste noch nicht gerochen. So richtig nach verfaulter, alter Wellensittichkacke, so als ob wir nicht die ersten Besitzer wären. Dabei hat’s uns 11 harte DM gekostet. Und zu alledem hat es noch einen Riesenriß in der Seite. Jaja, so läßt man sich verscheißern.
Ob ich in den Osterferien Zeit habe? Sicher doch. Aber ob ich dann wegkann und darf, das steht auf einem anderen Blatt. Ich habe meine Mutter nämlich schon gefragt, und irgendwie hat’s der nicht so gefallen. Das wäre zuviel Arbeit für Deine Mutter und so. Du bist ja schließlich auch ohne Bruder hergekommen, aber wir kämen zu zweit. Ich und der Holger hätten allerdings nichts dagegen, Meppen zu erkunden.
Jetzt aber endlich zu meinem vernichtenden Damezug, der das Spielfeld in eine Trümmerlandschaft verwandeln wird … F6 auf G5.
Scheißkerl! Faule Taktiken anwenden! Drecksack! Buhää!
Ich hatte es geahnt, daß Michael meinen Tricks in Dame nicht gewachsen war. Jetzt hatte ich ihn in der Zange.
In dem Umschlag steckte auch wieder ein Brief von Holger.
Hallöchen!
Hast Du es gut! Du sitzt zuhause und langweilst Dich, weil Du nichts zu tun hast. Ich wäre froh, wenn ich nichts zu tun hätte. Wäre das schön, sich zu langweilen und mal richtig auszuspannen! Mein Tagesplan sieht anders aus:
07h00–07h49 Busfahrt (diese Strapaze kennst Du ja!)
07h50–13h10 Schule (reiher, kotz)
13h25–14h00 Bus
14h01–14h30 Essen
14h31–17h00 Versuch, die Hausaufgaben hinauszuschieben
17h01–17h05 Hausaufgaben
17h06–18h30 Musikhören
18h31–19h00 Essen
19h01–22h00 Fernsehzwang
22h01–03h00 Musikhören
03h01–05h00 Pennen
05h01–06h59 Aufstehen
Jede Sekunde ist ausgefüllt, keine Zehntelsekunde Zeit zum Ausruhen. Ist das ein beschissenes Leben! Gut hast Du es!
Für diesen Brief mußte ich 99,86 Sekunden von meinen Hausaufgaben abknapsen. (Du Schwein.)
Tschüß, Holgerli!
Ja, die Busfahrten morgens und mittags, vom Mallendarer Berg nach Koblenz und zurück, die waren kein Zuckerlecken, aber ich hätte trotzdem lieber jeden Morgen mit Michael und Holger ’ne halbe Stunde lang im Bus am Rhein im Stau gesteckt als hier allein in Meppen.
Als das Moped endlich betriebsbereit in der Garageneinfahrt stand, stülpte Volker sich seinen schon vor langer Zeit erworbenen Sturzhelm über und brauste los. Wrumm, wrumm, spotz,