Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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meinem Leidwesen kriegten wir jetzt doch noch Erdkunde und Physik. Damit waren’s 26 Wochenstunden.

      In Erde ging es um die Steuerung der Raumerschließung in den USA und in der UdSSR. Die Russen müßten sich mit Dauerfrostböden abplagen: Tundra und Taiga. Bleicherde und Schwarzerde.

      Physik war mir schon in der ersten Stunde so unverständlich wie sonst nur Mathe. Ein Körper würde sich gleichförmig bewegen, wenn er stets in gleichen Zeiten gleiche Wege gehe …

      Der Weg s ist dann der Zeit t proportional: s ~ t. Unter der Geschwindigkeit v dieser gleichförmigen Bewegung versteht man den konstanten Quotienten aus der Wegstrecke s und der Zeit t:v = s/t.

      Alles klar?

      Aus meinen alten Fußballschuhen war ich herausgewachsen, und ich quengelte um neue. Von Puma sollten sie sein, mit Schraubstollen, aber Mama fiel fast in Ohnmacht, als sie die Preisschilder sah, und ich kriegte wieder nur billige Bunken mit Gummistollen.

      Von Michael und Holger wollte ich wissen, wie es mit dem Zelten in den Sommerferien wäre. Wir drei und dazu noch Volker und Harald? Auf einem Campingplatz mit Badesee? Das hätte ich mir lustig vorgestellt. Morgens im See schwimmen, statt sich zu waschen, Radtouren unternehmen, den ganzen Tag nur Erdnüsse futtern und sich abends Spiegeleier braten.

      Muhammad Ali war abermals herausgefordert worden, von einem gewissen Jean-Pierre Coopman. Von dem hatte ich vorher noch nie was gehört. Auf deutsch bedeutete dessen Name ungefähr soviel wie: Hans-Peter Kaufmann. Da wollte sich also ein Nobody namens Hans-Peter Kaufmann mit Muhammad Ali messen! Wohl nicht mehr alle Latten am Zaun?

      Den Kampf hätte ich sogar sehen dürfen, weil er am schulfreien Samstag übertragen wurde, frühmorgens, aus Puerto Rico, aber als der Wecker mich um zehn vor vier aus dem Schlaf riß, überlegte ich’s mir anders. Wenn der Herausforderer George Foreman geheißen hätte, gut, oder Joe Frazier, dann hätte ich mir vielleicht einen Ruck gegeben …

      In den Morgennachrichten hörte ich, daß Coopman von Ali k.o. geschlagen worden war. Tja. Morgens um sieben war die Welt noch in Ordnung.

      Aus den Fugen geriet sie erst am Nachmittag: Innerhalb von zwei Minuten verwandelten Horst Hrubesch und Werner Lorant Gladbachs frühe Führung gegen Rot-Weiß Essen in einen Rückstand, und dabei blieb’s. Eine Heimniederlage! Das war eine kalte Dusche, die an Gladbachs Nimbus der Unbesiegbarkeit kratzte. Falls Duschen an Nimbussen kratzen konnten.

      Ich saß am Klavier und pingelte mir da was zusammen (»An der Saale hellem Strande«), als Mama reinkam, um mich ins Gebet zu nehmen: Ob sie mich bei der Musikschule anmelden solle? Dann müsse ich aber auch regelmäßig üben. »Hörst du?«

      Pastor Böker stellte klar, daß die Konfirmation die Erneuerung eines uns bereits als Täuflingen gegebenen Versprechens sei: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.«

      Durfte man als Christ denn nicht sich selbst gehören? Mir reichte es schon, ständig von Papa in den Garten gepfiffen zu werden, und nun sollte ich auch noch einem Gott gehorchen, der jederzeit sein Copyright an mir geltend machen konnte.

      Oma Schlosser rief an. Sie habe einen Brief von ihrer Freundin aus Südwestafrika gekriegt: Nahebei habe ein Guerilla-Überfall stattgefunden, eine weiße Farmerfamilie sei ermordet worden, und die Gegend sei wohl doch zu unsicher für Touristen.

      Die Reise wurde abgeblasen.

      Mama rief Renate an: »Hast du schon gepackt? Aha. Dann pack mal wieder aus. Deine Mama bleibt hier!«

      Sie rief auch in Afrika an, bei der Familie der Freundin von Oma, und auf einmal sah alles gar nicht mehr so dramatisch aus. In einem Telefonat mit Oma Schlosser sprach Mama ihr wieder Mut zu der Reise zu, und Oma lenkte ein. Dann rief Mama noch einmal Renate an: »Kommando zurück! Wir fliegen doch! Schöner Schreck in der Abendstunde, nicht?«

      Renate konnte allerdings erst am Aschermittwoch nach Meppen kommen, weil sie nach der Birkelbachzeit noch zu ihrem Abgott Olaf hinwollte.

      Bei Mamas Abreise lag Meppen in dichtem Nebel, und Mama bangte um die schöne Vogelperspektive, die sie vom Flugzeug aus haben würde. Geflogen war sie vorher noch nie. In Düsseldorf würde Onkel Jürgen Mama und Oma zum Flughafen bringen.

      »Hals- und Beinbruch!« rief Papa Mama vom Bahnsteig aus nach und holte ein Taschentuch raus, um ihr damit hinterherzuwinken.

      Von Zürich würden Mama und Oma mit South African Airlines nach Windhuk fliegen, und da sollten sie abgeholt werden.

      Eintausendneunhundertundvier Mark pro Nase kosteten Hin- und Rückflug.

      »Und ich bin jetzt Strohwitwer«, sagte Papa.

      In der EM-Qualifikation zermalmten wir Malta mit 8:0. Ich spitzte mich auch schon auf die WM ’78, obwohl die Jahreszahl noch so klang wie der Titel eines irren Zukunftsromans. 1978! Moderner würde es überhaupt nicht mehr gehen, oder frühestens im Jahr 2000, mit Küchenrobotern, fliegenden Autos und Wolkenkratzern aus Plastik oder Aluminium oder irgendwelchen Rohstoffen vom Neptun. Und mit Bildungspillen, die man nur zu schlucken brauchte, und schon würde man perfekt Chinesisch sprechen.

      Als ob man auf ’ner Zeitreise wäre. Die Jahreszahl 1976 hatte ich so halb und halb verkraftet, aber auf 1977 würde ich mich nicht mehr einstellen können, und auf 1978 und alles, was danach noch kommen sollte, war ich nicht genügend vorbereitet. Meiner einer, hätte Bugs Bunny gesagt, wäre lieber in das Jahr 1971 oder meinetwegen 1966 zurückgekehrt, um das noch einmal auszukosten.

      1976 war ein Schaltjahr. Eine Tochter von Onkel Dietrich – welche, hatte ich vergessen – war am 29. Februar geboren worden und konnte deshalb nur alle vier Jahre richtig Geburtstag feiern.

      Papa erlaubte mir, mit dem Rad nach Rütenbrock zu fahren, wo ich Hermann Gerdes besuchen wollte, und ich durfte da auch übernachten.

      Von Meppen nach Rütenbrock, das waren dreißig Kilometer. Nach dem Sonntagsfrühstück stratzte ich los, guten Mutes, mit drei Bechern Kaba und sieben Erdbeermarmeladentoasts im Bauch.

      Bis Haren hatte ich Rückenwind. Ab dann ging’s schwerer, an einem Kanal entlang, wo mir der Wind ins Gesicht blies und ich oft im Stehen fahren mußte, Kilometer um Kilometer.

      Hermann Gerdes wohnte im letzten Haus in der Kanalstraße. Da bekam ich gleich die fette Sau gezeigt, die denen gehörte und in deren Stall es so gottsjämmerlich stank, daß ich fast umgekippt wäre.

      »Junge«, sagte Hermann, »du bist nichts gewohnt!«

      Zu Mittag gab’s erst Hühnersuppe und dann Hähnchen mit Kartoffeln und Rotkohl. Hähnchen mit Kartoffeln, das leuchtete mir ja noch ein, aber Rotkohl? Um Hermanns Mutter nicht zu kränken, würgte ich den Rotkohl runter und riß mich zusammen, um ihr den nicht auf den Tisch zu kotzen, denn von Rotkohl wurde mir speiübel. Schon von dem Geruch allein.

      Als ich den Fraß endlich verdrückt hatte, bot Frau Gerdes mir einen Nachschlag an. Wie hätte ich den abwehren sollen?

      Überm Eßtisch hing ein Klebestreifen von der Decke runter, mit toten und sterbenden Stubenfliegen, die sich in dem Leim verfangen hatten.

      Eigenartig war auch, daß sich am Eßtisch alle bekreuzigten.

      Nachmittags zeigte Hermann mir die Ruine einer alten, schon vor Jahren stillgelegten Ziegelei. Da konnte man die letzten heilen Fensterscheiben und Dachziegel mit Steinen zerschmeißen.

      Aus der Hosentasche holte Hermann ein Feuerzeug raus, doch unser Versuch, im Schatten der Ziegelei ein Lagerfeuer zu entfachen, mißlang.

      Am Kanal lieferten wir uns ein Kämpfchen, und Hermann erzählte mir vom Buhkeeler: Das sei ein Ungeheuer, das den Kanal bewohne, so ähnlich wie das von Loch Ness, und wenn ein Kind dem Kanal zu nahe komme, werde es vom Buhkeeler erbeutet und aufgefuttert.

      Ulkig an dem Haus von Hermanns Eltern war die Existenz eines zweiten Wohnzimmers, das