In voller Länge konnte ich mir den Song erst anhören, nachdem ich meinen Nachtischteller unter Renates strengem Blick bis aufs letzte Erdbeerjoghurtatom leergefressen hatte.
The more I think
The more I know
The more it hurts …
Frei Haus mitgeliefert worden war ein Merkheft, eingeleitet von einem Begrüßungsschreiben des Zweitausendeins-Chefs:
Guten Tag,
wenn man so alt ist wie wir, nämlich sieben (verflixt, so alt ist unser Unternehmen schon), dann trifft einen schon mal in einem lauen Moment die Identitätskrise und man fragt sich angestrengt, was man ist …
Außer einigen Nacktfotos enthielt das engbedruckte Heft Informationen über frisch ausgepackte Platten und billige Restposten, doch mein Etat gab leider auch für Sonderangebote nichts mehr her.
Aus einer Postbenachrichtigung ging hervor, daß Mama im Lotto 66,46 DM gewonnen habe, doch in der Annahmestelle biß Renate auf Granit. Das Geld müsse Mama persönlich abholen, hieß es da, und zwar binnen sieben Tagen, und Renate konnte nur mit gutem Zureden und der Leistung einer Unterschrift auf irgendwelchen Papieren eine Verlängerung der Frist bis zum vierten Oktober erwirken.
Auf NDR 3 dolmetschte Tante Dagmar abends Spanisch bei einer Diskussion über die Frankfurter Buchmesse. So eine prominente Tante hatte man, deren Stimme im Äther erklang, was einem aber auch nicht viel nützte, wenn man in Meppen gefangensaß und als Hausaufgabe Goethes »Götz von Berlichingen« lesen mußte.
In der alten Reclam-Ausgabe von Mama konnte ich die Stelle mit dem Arschlecken nicht finden. Die war wohl der Zensurschere zum Opfer gefallen.
Als es nachmittags wie immer regnete, ging ich im Wohnzimmer zum hundertsten Mal Mamas Bücher durch. Vielleicht hatte ich ja doch noch ein verwendbares übersehen?
»Eltern, Kind und Neurose« hieß ein Taschenbuch, in das ich einen kurzen Blick riskierte.
Diagnose: Enuresis und Enkopresis. Dissoziale Fehlhandlungen.
Ach du lieber Gott von Bentheim. Da kehrte ich doch lieber wieder heim zu Curd Jürgens und Anthony Quinn.
Gegen Rot-Weiß Essen glückte Gladbach ein Kantersieg – 6:0! Drei Tore hatte allein Jupp Heynckes geschossen. Wenn die Kölner die Tabellenführung behaupten wollten, genügte ihnen beim Samstagsspiel gegen Bayern rein rechnerisch ein Sieg mit zwei Toren Vorsprung, aber die Bayern waren nicht dafür bekannt, daß sie im eigenen Stadion ihre Siege verschenkten.
Einmal rief Mama abends an, um halb zehn: Sie amüsiere sich bestens, und sie nehme alles mit, was sie kriegen könne, Theater, Kino, Museen, und sie habe sich noch keine Minute gelangweilt, auch jetzt nicht auf der Wiesn beim Oktoberfest mit Blasmusi und Schunkeln überall. Da sei auch Papa von ihr hingeschleift worden, trotz seiner Gegenwehr, und er habe nur leider seinen Personalausweis in Meppen vergessen, so daß sie an diesem Wochenende nicht wie geplant nach Salzburg hätten fahren können …
Renate suchte mehr als eine Stunde lang nach Papas Ausweis und fand ihn dann in einem Aktentaschenschlitz. Gleich am nächsten Tag wollte sie das Ding per Einschreiben nach Ottobrunn spedieren.
Den 1. FC Köln vernaschte Bayern München mit 4:1, und Gladbach war neuer Tabellenführer. Sieben Spiele, fünf Siege, zwei Unentschieden, keine Niederlage, 17:5 Tore, 12:2 Punkte: Das war doch ein prächtiger Saisonstart.
Die Bayern hatten zwar schon 26 Tore geschossen, aber auch 15 Gegentore hinnehmen müssen.
Als wahres Torfestival hatte sich die Begegnung zwischen Schalke 04 und Tennis Borussia erwiesen. Der Endstand – 5:4 für Schalke – deutete nicht darauf hin, daß Bundestrainer Helmut Schön sich mit dem Gedanken tragen müßte, Tennis Borussias Torwart Hubert Birkenmeier in den engeren Kreis der Aspiranten auf die Nachfolge Sepp Maiers einzubeziehen.
Renate sagte ihren überflüssigen Pfunden abermals den Kampf an: Ab Montag wollte sie von ihrer Tausend-Kalorien-Diät auf Nulldiät umsteigen und bloß noch Kaffee, Tee und Wasser konsumieren, eine Vitamintablette täglich und dazu vielleicht noch eine Prise Süßstoff. Wenn schon, denn schon.
Zum Abnehmen hätte ich an Renates Stelle lieber Fußball gespielt. Obwohl: Damenfußball? Gab’s das überhaupt in Meppen?
Was für ein trauriges Los, einem Geschlecht anzugehören, dem als magerer Ersatz für den Vereinsfußball nur das Hungern übrigblieb.
Näher als bis Lingen war Helmut Kohl bei seiner Wahlkampftournee an Meppen nicht herangekommen, und ich hatte es mir ein paar Märker kosten lassen, am Stichtag mit dem Zug die zwanzig Kilometer nach Lingen zu fahren und mir dort im Geschiebe und Gedränge der Volksmassen ein Autogramm von Kohl zu besorgen, persönlich und aus erster Hand, als Bestandteil einer Sammlung, deren Umfang irgendwann selbst Gustav schier vor Neid erblassen lassen dürfte.
Der ranghöchste SPD-Politiker, den es im Wahlkampf nach Meppen verschlagen hatte, war der Arbeitsminister Walter Arendt, aber um den hatten sich keine Massen gedrängt, sondern nur ein Häuflein Parteifreunde, in einer verqualmten Kneipe statt unter freiem Himmel, und am Ende der Veranstaltung wären Walter Arendt und die neben ihm sitzenden Lokalmatadoren mit der Erfüllung meines Autogrammwunschs total überfordert gewesen, wenn sich nicht doch noch irgendwo ein Kugelschreiber und ein Papierfetzen angefunden hätten. Autogrammkarten? Fehlanzeige.
Und nun sollte auf dem Meppener Windthorstplatz bei einer Kundgebung der CDU der als Scharfmacher bekannte Spitzenpolitiker Alfred Dregger sprechen, allerdings schon mittags, so daß Hermann und ich die Mathestunde schwänzen mußten, um dieses politische Großereignis nicht zu verpassen, aber so furchtbar groß war’s dann auch wieder nicht, sondern ziemlich übersichtlich, und wir konnten uns ohne Schwierigkeiten weit nach vorne drängeln.
Nach dem Wahlsieg, tönte Dregger, werde »Kassensturz« gemacht in Bonn, auf Heller und Pfennig genau, und dann werde sich zeigen, was noch zu retten sei nach sieben Jahren sozialliberaler Mißwirtschaft und deren verheerenden Folgen: wachsende Arbeitslosigkeit, erhöhte Steuern, steigende Inflationsrate, zunehmende Gewaltkriminalität und außenpolitisch der Kotau vor Moskau und den sowjetischen Satellitenstaaten, Milliardengeschenke an die Marxisten der Dritten Welt, Korrosion des atlantischen Bündnisschilds und eine dramatische Gefährdung des Friedens und der internationalen Sicherheitslage …
»Panikmache«, sagte Hermann halblaut, und da drehte sich ein Mann zu uns um, dessen Gesichtszüge jedem Leser der Meppener Tagespost vertraut erscheinen mußten: CDU-MdB Burkhard Ritz – einer der edelsten Platzhirsche in der Hackordnung der emsländischen Christdemokratie und zudem der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag.
Burkhard Ritz bedachte uns beide mit eisigen Blicken und wandte sich dann wieder Dregger zu, der sich jetzt über das schwarz-rot-goldene Emblem der CDU vernehmen ließ. Das sehe nicht so halbherzig und flatterhaft aus wie das wellenförmige der SPD, denn bei der CDU gehe es steil nach oben: »Aus Liebe zu Deutschland!«
Ich applaudierte, und ich bat auch Hermann zu applaudieren, weil sich Burkhard Ritz schon wieder zu uns umdrehte und ich hier nicht als Querulant eingestuft werden wollte, denn ich hatte vor, mir auch von Dregger ein Autogramm zu beschaffen, und nachdem ich lange genug geklatscht hatte, ging ich nach vorn und holte mir eins ab.
Nach allem, was ich gelesen hatte, besaß Muhammad Alis neuer Herausforderer Ken Norton ein größeres Format als seine letzten drei Vorgänger, und ich stellte meinen Wecker auf drei Uhr zwanzig, ohne Renate vorher zu fragen, ob es ihr genehm wäre, wenn ich einen Teil meines Nachtschlafs opferte, um mir die Übertragung dieses Boxkampfs ankucken zu können. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, dachte ich mir, und wenn alles glattlief, würde Renate von meinem nächtlichen Ausflug zum Fernseher gar nichts mitkriegen, aber als der Wecker dann klingelte, war mir der gesamte Boxsport auf einmal so egal, wie’s nur ging. Ich stellte das Klingeln ab und ratzte weiter und erfuhr erst morgens aus dem Radio,