Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Ob vermittelst seiner Pfeifen dieser Mann nicht anzugreifen, die Stelle verstand ich nicht.

      Die Rotkäppchenschallplatte konnten wir auswendig, und Papa wollte uns das ganze Märchen auf Kassette sprechen lassen, erst Volker und dann mich und dann Renate.

      Ich hab ein kleines Käppchen, das ist aus rotem Samt!

      Als ich an der Reihe war, sollte ich sagen: »Aber du bist ja gar nicht mein Rotkäppchen, du bist ja der Wolf, hilfe, hilfe«, nur wußte ich dann nicht mehr weiter, und Renate erzählte den Rest.

      Danach sollte ich das Lied vom Rotkäppchen singen. Drum werd ich von den Leuten nur Rotkäppchen genannt. Es waren aber keine Leute da, und ich sagte, da müßten noch Leute hin.

      »Ach, du Dusseltier«, sagte Papa, und dann mußte er wieder nach Amerika fliegen.

      Als Oma Schlosser gekommen war, las sie uns selbst Grimms Märchen vor. Die Bremer Stadtmusikanten und wie Aschenputtels Stiefschwestern sich mit einem Messer die große Zehe und was von der Ferse abhackten, damit der Fuß in Aschenputtels Schuh paßte. Wie das wohl wehgetan hatte.

      Ruckedigu, Blut ist im Schuh!

      Aus Amerika brachte Papa mir einen Hubschrauber und Volker einen Jeep mit. Der Hubschrauber war mit Propellern und der Jeep mit Raketenrohr, Anhänger und Blinkscheinwerfer. Zum Geburtstag hatte Volker noch einen Bagger, ein Angelspiel und die Bücher Peps und Mary Poppins gekriegt.

      Mary Poppins war eine Frau, die mit ihrem Regenschirm fliegen konnte. Als ich meinen Hubschrauber vom Küchenfenster aus fliegen lassen wollte, fiel er runter und ging unten kaputt, und Papa sagte, ich sei ein Rindvieh.

      Bei dem Angelspiel waren an den Angelschnüren Magneten, mit denen man sich Fische aus einem Kasten angeln konnte. Volker kuckte immer oben rein, obwohl das verboten war.

      Behalten durfte man nur die Fische, die einem nicht wieder von der Angel gefallen waren.

      Meistens gewann Renate. Die konnte auch das eine Geduldsspiel mit den Kügelchen in der runden Dose gut. Wenn man die Dose richtig schüttelte und kippte, rollten die Kügelchen in die Löcher, aber nur bei Renate.

      Am schwersten war das Spiel mit dem Holzkasten mit den zwei Drehknöpfen außendran und der weißen Kugel, die in keins der vielen Löcher fallen durfte. Ich war noch nie weiter als bis zum dritten Loch gekommen.

      Wenn bei Flipper welche tauchten, hielt ich die Luft an, aber das schaffte ich nie so lange wie die im Fernsehen.

      Flipper gehörte einem Jungen mit Sommersprossen. Der Vater von dem Jungen war Oberaufseher im Schutzgebiet und rettete Leute vorm Ertrinken. Die Bösen spritzte Flipper mit Wasser naß und schnatterte dann, und die Guten ließ er auf sich reiten. Rufen konnte man Flipper mit einer Unterwasserhupe. Jeder liebt ihn, den klugen Delphin!

      Im Rhein und in der Mosel schwammen keine Delphine, auch keine Haifische oder Riesenschildkröten.

      Karneval durfte ich diesmal als Prinz gehen, aber das Prinzenkostüm war längst nicht so gut wie das Supermankostüm, das Mama für Volker genäht hatte. Immer kriegte der was Besseres als ich.

      Beim Rosenmontagszug sahen wir einen Jungen, der als Trapper ging, mit Schießgewehr und Biberfellmütze. Einer ging auch als Cäsar, der lustige Hase. Nur ich mußte als doofer Prinz rumlaufen, und wenn von den Wagen Bonbons geworfen wurden, kam ich nie an einen dran. Außerdem hatte ich kalte Füße.

      »Wenn du nicht aufhörst zu quengeln, fahren wir Ostern ohne dich nach Jever«, sagte Mama.

      Volker nahm seinen Bagger mit und Renate ihre Knüpferli, die zum Zusammenstecken waren. Daraus konnte sie Ringe, Reifen und Kugeln basteln.

      Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot (der Shell-Atlas, den Mama die ganze Fahrt über auf den Knien liegen hatte).

      Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist braun (Renates Apfelkernkette).

      Als wir nach drei Stunden Rast machten, gab es lauwarmen Kaba aus der Thermoskanne zu trinken, mit dem abgeschraubten Deckel als Becher.

      Oma Jever machte Bratkartoffeln für uns alle, mit Zwiebeln und fettem Speck.

      »Wenn ich noch mehr esse, muß ich kotzen«, sagte Renate.

      »Das sagt man nicht«, sagte Oma.

      »Mama sagt das aber auch«, sagte Renate.

      »Und Papa auch!« sagte Volker.

      Eins zwei drei vier fünf sechs sieben, eine alte Frau kocht Rüben.

      In der einen Wohnung unten unter der von Oma und Opa wohnten Kaufholds und in der anderen Frau Apken, die verwitwet war, so wie die Witwe Bolte in Max und Moritz. Daß sie von dem Sauerkohle eine Portion sich hole.

      Gustav hob mich über den Zaun am Gartenende rüber und sagte, gleich würden die Schweine aus dem Stall gelaufen kommen, um mich aufzufressen, und ich fing an zu schreien und am Zaun zu rütteln, bis Gustav mich wieder rüberhob.

      Das mit den Schweinen hatte er mir nur vorgelogen.

      Beim Tag der offenen Tür auf dem Fliegerhorst in Upjever konnte man Starfighter und Düsenjäger fliegen sehen, und man mußte sich die Ohren zuhalten, weil einem sonst das Trommelfell platzte, das innen im Ohr war.

      Danach wollte Volker Fallschirmspringer werden.

      Zurück mußten wir zu Fuß gehen, weil Papa mit dem Käfer auf dem Fliegerhorst im Stau steckengeblieben war, und als wir in der Mühlenstraße ankamen, fühlte Oma sich ganz bregenklöterig, was ein anderes Wort für schwindelig war.

      In Lützel steckte Papa Stöpsel in die Steckdosen, damit Wiebke da nicht reinfassen konnte.

      Mittags schmiß sie immer ihren Löffel runter oder haute mit der Hand in ihren Brei rein.

      »Du du!« sagte Mama dann, aber das nützte nicht viel.

      Oma Schlosser war ein Hagelkorn aus dem Auge operiert worden, deswegen mußte sie noch warten mit dem Pulloverstricken. Das stand in einem Brief, den sie mir zum Geburtstag geschickt hatte. An Herrn Martin Schlosser, Straßburger Straße 5, 5400 Koblenz-Lützel.

      Am frohesten war ich über den großen Schokoladenmarienkäfer und das Geld, für das ich mir Indianer kaufen konnte, welche mit Flitzebogen und welche mit Gewehr.

      Im Kinderzimmer spielten wir Memory. Da gewann immer Renate, weil die sich von den Karten auch die blöden merkte, die mit dem Gemüse, die mit Karos und die mit der Frau, die so doof kuckte. Ich merkte mir immer nur Barbar, Petunia, den Ball, die Sonne und den Löwen.

      Gemein war, daß es zwei verschiedene Schiffe gab und zwei verschiedene Kerzen. Und daß die eine gelbe Memorykarte nur fast so ähnlich aussah wie die andere gelbe.

      »Bei dir piept’s wohl im Oberstübchen«, sagte Renate, wenn ich mir ein Pärchen holen wollte, das nicht zusammenpaßte.

      Ganz am Ende konnte man aufholen, wenn man keinen Fehler machte beim Umdrehen. Tanne, Schwalbe, Hase, Fuchs und Zitrone.

      Jetzt sei es bald soweit, sagte Mama, wir würden umziehen, auf die andere Rheinseite, in ein Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, mit viel mehr Platz und mit Garten und herrlicher Aussicht und einem Wald in der Nähe. Gute Luft, kein Durchgangsverkehr mehr und keine Frau Quasdorf, die im Treppenhaus steht und dummes Zeug redet. Volker und ich würden ein Zimmer zusammen kriegen, Renate ein anderes und Papa eine Werkstatt im Keller. Endlich raus aus dem schedderigen Lützel. Wie wir das fänden.

      Am Fernsehprogramm würde sich nichts ändern. Schlager für Schlappohren könnten wir auch auf der Horchheimer Höhe kucken.

      Vor dem Umzug wurde ich wieder nach Düsseldorf gebracht zu Tante Dorothea und Onkel Jürgen und meinen Vettern, die ihre Fahrräder nachts auf dem Bürgersteig liegenlassen durften oder sogar mitten auf der Straße.

      Vorm Einschlafen wollte ich von