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Für Bodo
amor vincit omnia
Eva lebt mit ihrem Vater in Stuttgart. Gemeinsam hegen und pflegen sie das Haus, das die Familie seit Generationen bewohnt, ebenso wie die familiäre Legende von Glück und Harmonie. Evas Zufluchtsort ist die Welt der Sprachen. Sie liest Grammatiken und Wörterbücher wie andere Menschen Romane. Als sie mit Mitte dreißig von dem Künstler Ruben ungewollt schwanger wird, sieht Eva sich plötzlich konfrontiert mit realen Herausforderungen und Fragen, die sie lange verdrängt hat: Wie haltbar sind die harmonischen Familiengeschichten, mit denen sie aufgewachsen ist? Ist ihre Mutter wirklich bei ihrer Geburt gestorben oder lebt sie womöglich noch? Und wie soll ihr eigenes Leben als Frau und Mutter aussehen?
Mit einer Mischung aus Mut und Verzweiflung macht Eva sich schließlich hochschwanger auf die Suche nach ihrer Mutter und nach der Wahrheit hinter den Familienlegenden. Wird es ihr gelingen, Realität und Fiktion zu trennen und die Erzählung ihres Lebens in die eigene Hand zu nehmen?
Katrin Köhl ist in Stuttgart aufgewachsen. Sie studierte Russisch, Französisch und Geschichte in Tübingen und Münster und arbeitete am Tübinger Seminar für Zeitgeschichte als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin hält sie Vorträge über historische, politische und literarische Themen. Die Liebe zu fremden Sprachen teilt sie mit ihrer Protagonistin und sammelt ebenso leidenschaftlich Grammatiken und Wörterbücher unterschiedlichster Sprachen und Epochen.
Katrin Köhl
Windmühlentage
© 2020 Katrin Köhl
Umschlag, Illustration: Katrin Köhl
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN | |
Paperback | 978-3-347-08732-3 |
Hardcover | 978-3-347-08733-0 |
e-Book | 978-3-347-08734-7 |
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Ankunft
Ein leichter Geruch von Urin auf warmem feuchtem Stein. Sobald ihr die vertraute Mischung in die Nase stieg, wusste Eva: sie war angekommen. Die Duschen lagen rechts und links der Terrasse, direkt neben den Toiletten mit den hellblauen Holztüren. Abends stapfte sie mit ihrem Vater durch den Sand nach oben, sonnenwarm oder fröstelnd von Wind und kaltem Meerwasser. Wenn sie die Gettoni, die Signor Bertoni ihnen umsonst gab, in das abgewetzte Metallkästchen steckte, hüllte der Dampf in der gemauerten Duschkabine sie ein wie ein Willkommensgruß. Über ihr der Himmel, manchmal blau, oft aber grau, mit Wolken, die der Scirocco vor sich hertrieb. Sie kamen im Frühjahr und im Herbst. Es waren die Zeiten der Arbeit. Des Aufräumens und der Vorbereitung. Wenn Bernd den alten VW-Bus im Herbst auf der Terrasse des Restaurants parkte, waren die Spuren der Saison schon fast beseitigt. Sonnenschirme und Liegestühle hatte Eva nie gesehen. Vereinzelt wurden noch Boote winterfest gemacht. Vor allem aber mussten die Zäune aufgebaut werden, die verhinderten, dass der Sand im Winter bis auf die Terrasse geweht wurde.
Eva und Bernd waren in dem kleinen Kosmos von Signor Bertonis Strandbad so etwas wie Zwitterwesen, keine Einheimischen, aber auch nicht wirklich Touristen. Bernd half dem Padrone beim Auf- und Abbau vor und nach der Saison, dafür durften sie kostenlos direkt am Restaurant campen. Wenn Eva und ihr Vater ankamen, wurden sie jedesmal herzlich begrüßt.
»Ecco, arrivano i tedeschi! Die Deutschen sind wieder da!«
Die Einheimischen kannten sie schon. Ebenso wie die clienti, die Sommergäste, die in der Zeit um Ostern ihren ersten großen Auftritt hatten. Wie sie in Signor Bertonis Bagno Einzug hielten, erinnerte Eva immer an eine Fronleichnamsprozession: in feinem Zwirn und hochglanzpolierten Stöckelschuhen, die Kinder matrosenblau oder rüschenbehangen, vorneweg mit einem spitzenbesetzten Tuch um die Schultern und wichtiger Miene die nonna als Älteste der Familie. Sie kamen, um für die Sommermonate Liegestühle und Sonnenschirme in den vorderen Reihen zu reservieren. Mit den Jahren hatten sie sich wohl an den rostenden blauen VW-Bus mit Stuttgarter Kennzeichen gewöhnt, der mitten auf der Sonnenterrasse stand, direkt vor dem Panoramafenster des Restaurants. Trotzdem gehörte es zu ihrem Osterritual, auf dem Weg vom Bagno zum Strand langsam in geordneter Formation die Terrasse zu durchschreiten. Hörbar klingelten Großmütter und Tanten mit den goldenen Kettchen, die sie um Hals und Handgelenke trugen, und warfen missbilligende Seitenblicke auf das klapprige Gefährt. Bernd grinste dann immer süffisant. Er klopfte Eva auf die Schulter.
»Merkst du es? Wir zwei Hippies stören die großbürgerlichen Kreise.«
So war es immer gewesen. Sie beide gegen den Rest der Welt.
»Wir sind die Familie, vergiss das nie!«
Wie hätte Eva es je vergessen können? Sie hatte ja nur ihren Vater.
Jetzt saßen sie sich zu Hause am Küchentisch gegenüber. Er stopfte genüsslich seine Pfeife, zog ein paar Mal daran, paffte Rauchwölkchen in die Luft.
»Und? Was gibt’s so Wichtiges zu erzählen?«
Wo sollte sie beginnen? Am Abend zuvor war sie nach Hause gekommen. Sie war nur zwei Wochen weg gewesen, doch es fühlte sich an, als habe sie zwei Jahre auf einem fernen Kontinent verbracht. Der kleine Holztisch, an dem sie seit Evas Kinderzeit gemeinsam gefrühstückt hatten, erschien ihr auf einmal wie ein unüberwindliches Hindernis zwischen ihnen. Waren sie sich nicht immer nah gewesen? Wann hatte sich das verändert? Vermutlich hatte es an jenem Tag im Januar begonnen, als Eva sich mit Ruben im alten Waisenhaus traf.
Januar
Es wurde langsam hell. Eva stand am Fenster. Sie drehte ihr Wasserglas in den Händen. Die Wiese im Garten war nass und matschig, die kahlen Büsche vom Ostwind zerzaust. Es würde Schnee geben. Hoffentlich sprang in ihrem alten Polo die Heizung an. Bernd war schon unterwegs zur Arbeit, der dunkelbraune, in die Jahre gekommene Holztisch stand da, wie er ihn verlassen hatte. Sie nahm die Kaffeetasse und das Frühstücksbrett, trug beides zur Spüle. Bernd trank seinen Kaffee aus alten Porzellantassen, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Man musste sie von Hand spülen. Eva drehte den Wasserhahn auf und wusch die Tasse ab. Sie räumte die Anrichte ab, stellte die Butter in den Kühlschrank, die Marmeladen ins Regal. Dann leerte sie die Reste von Pfeifentabak in den Mülleimer und spülte den Aschenbecher. Der süßliche Geruch des Tabaks hing noch in der Luft. Die Pfeife lag ordentlich geputzt in einem Korb in der Mitte des Tisches. Daneben hatte der Vater einen Zettel gelegt. Bitte Tabak mitbringen! Er bestand auf einem ganz bestimmten Pfeifentabak aus einem Laden im Stuttgarter Westen, nicht weit von dem Buchladen, in dem Eva arbeitete. Sie hob den Korb hoch, wischte den Tisch ab, stellte die Pfeife dann vorsichtig wieder ab. Zehn Minuten, mehr Zeit müsste der Vater morgens nicht aufwenden, um seine Küche nach dem Frühstück wieder in Ordnung zu bringen. Er tat es nie. Jeden Morgen war es Eva, die rechtzeitig von oben herunterkam, um bei ihm sauber zu machen, bevor sie zur Arbeit ging.
Eva trank einen Schluck Wasser. Dabei spürte sie dieses leichte Gefühl von Übelkeit, das sie seit einigen Wochen jeden Morgen hatte. Es fühlte sich an wie ein dumpfer schmerzender Fleck in ihrem Magen. Wenn es so blieb, war es auszuhalten. Manchmal jedoch begann der Fleck, sich auszubreiten. Dann schien die Übelkeit regelrecht Besitz von ihr zu ergreifen, bis sie sich von einem Augenblick auf den anderen übergeben musste. Sie konzentrierte sich auf ihr Wasserglas und überlegte, ob sie noch eine Scheibe Brot essen sollte, als sie oben das Telefon klingeln hörte. Wer konnte das um diese Zeit sein? Eva rannte die Treppe hinauf in ihre Wohnung im ersten Stock und griff nach dem Telefon, das im Flur auf der Kommode stand.
»Brandes.«
»¡Hola corazón! Hallo, mein Herz!«
Ruben. War er schon aus Argentinien zurück?
»Bist du in Stuttgart? Wie war die Reise?«
»¡Muy