Katrin Köhl

Windmühlentage


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ich in eine Stadt komme, finde ich intuitiv die Kirche, den Markt und den Platz, wo sich die Straßenmusiker treffen. Ein Plan verwirrt mich. Du hast den Stadtplan im Kopf. Und vermutlich weißt du immer, wo Norden ist.«

      So hatte Eva es noch nie betrachtet. Aber vielleicht beschrieb dieses Bild den Unterschied zwischen ihnen ganz gut. Ruben prostete ihr zu.

      »Zum Glück sind die Menschen und ihre Wahrnehmung verschieden. Sollten wir je zusammen verreisen, werden wir wunderbar zurechtkommen.«

      Sie hatten sich danach noch ein paarmal im Krokodil verabredet. Eva freute sich auf die Treffen mit Ruben. Sie fühlte sich leicht und unkompliziert, wenn sie mit ihm zusammen war, und genoss seine Aufmerksamkeit. Frank dagegen schien sich ihr mehr und mehr zu entziehen. Sie drängte auf gemeinsame Zeit, er tauchte immer öfter zu ihren Verabredungen nicht auf. Eines Abends rief er aus heiterem Himmel an und bestellte sie für den ersten Advent um sieben Uhr abends ins Cortina. Ein Treffen am Sonntag, dem Tag, der sonst immer der Familie vorbehalten gewesen war. Was mochte das bedeuten? Konnte sie es wagen zu hoffen? Hatten Frank und seine Frau einen letzten Versuch gemacht und sich nun doch getrennt? Vielleicht hatte er deshalb so wenig Zeit gehabt in den letzten Wochen. Er war mit der Trennung von seiner Frau beschäftigt. Jetzt war er frei für Eva. In der Woche vor dem Termin konnte sie kaum noch essen. Nachts schlief sie unruhig. Schließlich erzählte sie Ruben bei einem ihrer Treffen von Franks Anruf. Er hörte zu, sagte aber nichts.

      Am Morgen des ersten Advents wachte Eva früh auf. Sie versuchte, ein Kapitel in einer historischen französischen Grammatik zu lesen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Der Abend schien noch so unendlich weit weg zu sein. Lange stand Eva vor dem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen konnte. Heute sollte ihr großer Tag sein. Das Warten der vergangenen Monate würde nicht umsonst gewesen sein.

      Viel zu früh saß sie an der Bar des Cortina. Von ihrem Weißwein trank sie nichts, ihr war ohnehin schon leicht schwindelig, weil sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Aufgeregt nestelte sie an ihrer Handtasche, holte den kleinen Spiegel heraus, prüfte ihr Make-up. Dann saß sie wieder vor ihrem Glas, schaute auf die Uhr neben der Eingangstür. Es war inzwischen halb acht. Im Lauf der nächsten halben Stunde trank Eva den Wein aus. Sie bestellte ein zweites Glas. Um halb neun hörte sie, wie die Tür zur Bar aufging. Sie drehte sich nicht um, versuchte, sich auf dem Barhocker aufzurichten, hielt das Weinglas mit spitzen Fingern. Dann spürte sie die Hand auf ihrem Arm.

      »Komm mit. Es tut dir nicht gut, wenn du hier noch länger sitzt.«

      Ruben. Er bezahlte Evas Wein und nahm ihre Hand. Sie spürte, dass ihr Tränen die Wange hinunterliefen. Auf dem Parkplatz holte er ein in Alufolie gewickeltes Päckchen aus seiner Tasche.

      »Ich habe dir Crêpe mit Schokolade mitgebracht. Würde mich wundern, wenn du heute schon etwas gegessen hättest.«

      Dankbar biss Eva in den eingerollten Pfannkuchen. Er war sogar noch warm. Ruben nahm wieder ihre Hand.

      »Du solltest auf andere Gedanken kommen. Möchtest du sehen, woran ich gerade arbeite?«

      Eva schaute ihn an, kaute. Langsam wich der Schwindel, sie fühlte sich etwas stabiler.

      »Ein Bühnenbild an der Oper?«

      »Nein, ein Auftrag in Nürtingen. Dort wird gerade ein altes Programmkino wiederhergerichtet. Ich bemale die Wände im Saal und im Café. Bist du mit dem Auto da? Wir könnten gemeinsam hinfahren.«

      Alles erschien besser, als an diesem Abend allein zuhause zu sitzen. Gemeinsam gingen sie zu Evas Polo. Sie schob das letzte Stück Crêpe in den Mund, warf die Alufolie in einen Mülleimer und öffnete die Autotür.

      Der Saal war nicht besonders groß. Zehn Stuhlreihen mit roten Plüschsitzen. An eine der Seitenwände hatte Ruben einen Projektor gemalt. Eine lange Filmrolle schlängelte sich über die gesamte Wand. An der gegenüberliegenden Wand prangten die Köpfe bekannter Regisseure. Eva erkannte Alfred Hitchcock, Martin Scorsese, Woody Allen. Im Vorraum, der einmal das Café werden sollte, entstand neben der Tür zum Saal eine Bar. Ein Teil der Holzkonstruktion war schon zu sehen. Daneben stapelten sich weitere Bretter und Werkzeug. Ansonsten war der Raum noch leer bis auf ein ausladendes Sofa mit geschwungenen Armlehnen und grünem Plüschbezug, das an einer Seite stand. An der Wand dahinter ein angefangenes Bild. Große Schauspieler vergangener Zeiten, die an Bistrotischen saßen oder an einer Bar standen. Eva betrachtete die Vorzeichnungen. Einzig Richard Burton und Elizabeth Taylor waren schon in Farbe zu sehen.

      Der Raum war kalt, Eva fröstelte. Sie zog ihren Mantel enger um sich, drehte sich zu Ruben um.

      »Es wird sicher großartig aussehen.«

      Er stand an der unfertigen Bar. Eva fuhr mit der Hand über die Sofalehne.

      »Danke, dass du mich mitgenommen hast. Ich …«

      Sie merkte, dass ihr wieder die Tränen kamen, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

      »Tut mir leid.«

      Ruben kam zu ihr herüber. Er stand ganz nah, sein Gesicht an ihrem.

      »Eva, Evita, du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

      Seine Hand an ihrer Wange, um sie der stille, fast leere Raum. Das grüne Sofa wie eine Insel, auf der sie für einen Moment die Kälte vergaßen. Sie drängten sich aneinander, wärmten sich, sogen einander auf.

      Auf dem Heimweg sprachen sie nicht viel. Eva brachte Ruben zurück zum Vaihinger Bahnhof, wo sein Fahrrad stand. Er beugte sich zu ihr, küsste sie sanft auf den Mund.

      »Buenas noches, Evita.«

      Dann stieg er aus. Langsam fuhr Eva nach Hause. Sie lächelte. Erst als sie in ihrer Wohnung im Badezimmer stand und sich abschminkte, überfiel sie die Panik. Was hatte sie getan? War ihre Situation nicht schon kompliziert genug? Wie sollte es denn jetzt weitergehen? In zwei Wochen würde Ruben zu seiner Familie fahren. Dann hätte sie Zeit zum Nachdenken. Sie musste den Kopf frei bekommen, sich klar werden, was sie eigentlich wollte. Sollte sie versuchen, Frank zu kontaktieren? In ihrem Schlafzimmer zog Eva die russische Grammatik von Tauscher und Kirschbaum aus dem Regal und begann, das Kapitel über die Verben zu lesen. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Bildung von Zeitformen und Verbaspekten zu richten. Über dem Kapitel zu den Bewegungsverben schlief sie schließlich ein.

      Sechs Wochen waren seitdem vergangen. An diesem Morgen war nicht viel Betrieb im Buchladen. Die Umtauschwelle nach Weihnachten war schon verebbt, viele Kunden waren noch im Winterurlaub. Eva musste lediglich ein paar Bestellungen eintippen, einige Bücher für die Stadtteilbücherei einbinden und im Lager etwas Ordnung machen. Zwischendurch blätterte sie in den Leseexemplaren der Neuerscheinungen, die die Verlage geschickt hatten.

      Als sie um viertel nach zwölf aus dem Laden trat, schneite es. Sie beschloss, eine Station mit der S-Bahn zu fahren und den Rest bis zum Café im alten Waisenhaus zu Fuß zu gehen. Der Wind war im Lauf des Vormittags stärker geworden. Er blies Eva ins Gesicht. Von der Königstraße kommend, blickte sie über den Karlsplatz. Das gelbe Gebäude des Cafés war in dem dichten Flockenwirbel kaum zu erkennen. Die Löwen zu Füßen des Reiterstandbilds in der Mitte des Platzes, weiß vermummt, wie eingefroren. Eva überquerte den Platz, öffnete die Tür zum Café. Dämpfige Wärme schlug ihr entgegen, Musik, Lachen, Tellerklappern. Es war Mittagszeit. Fast alle Tische waren belegt. Sie stand einen Moment in der Tür, die Kälte des Platzes im Rücken, vor sich die geschäftige Gemütlichkeit des Cafés. Ohne dass Eva gesehen hätte, woher er kam, stand Ruben plötzlich neben ihr.

      »¡Hola Eva!«

      Sie sah, dass seine Haare vollkommen trocken waren. Er musste also schon länger hier sein. So weit sie sich erinnerte, hatte sie ihn nie eine Mütze tragen sehen. Lachend nahm er eine ihrer schwarzen Strähnen in seine Hand.

      »Schneit's?«

      Eva versuchte ein Grinsen, aber ihre Mundwinkel fühlten sich an wie eingefroren.

      »Komm.«

      Er hatte einen Tisch am Fenster ergattert, im hinteren Teil des Cafés mit Blick auf den Platz und die Planie. Eva hängte