»Darf"s schon was zu trinken sein?«
Eva schaute auf. Aus einem Gewirr von blonden Locken schaute die Bedienung sie auffordernd an. Sollte sie heißen Tee bestellen? Eva zögerte kurz, entschied sich dann sicherheitshalber für Wasser. Ein größeres Problem würde das Essen darstellen. Sie schaute in die Karte und überlegte, was sie wählen konnte. Von den umliegenden Tischen zog ihr das Tagesgericht in die Nase – Pasta mit Gorgonzolasauce. Der Geruch drehte Eva den Magen um. Hoffentlich hielt sie durch. Ruben nahm eine ihrer immer noch kalten Hände in seine.
»Wie geht es dir? Du siehst ein bisschen blass aus.«
»Mir ist heute nicht so gut, aber das vergeht schon wieder«
Sie zuckte mit den Schultern, versuchte zu lächeln. Die Bedienung steuerte wieder auf ihren Tisch zu. Ihre Locken und das Tablett, das sie auf der Hand balancierte, tanzten wie auf kleinen Wellenkämmen zwischen den Tischen hindurch.
»Ein Wasser, eine Cola. Was darf's zu essen sein?«
Ruben drückte Evas Hand.
»Versuch es mit Reis und Huhn. Das ist gut verträglich.«
Vermutlich hatte er Recht. Sie würde es probieren.
»Wie war Argentinien?«
Er lachte, streckte die Beine unter dem Tisch aus.
«Es war warm! Wir hatten die ganze Zeit schönes Wetter. Und es tat gut, mal wieder zu Hause zu sein. Meine Mutter hat gerade einen großen Auftrag bekommen. Ein russisches Café in der Nähe der orthodoxen Kathedrale von Buenos Aires möchte die Wände mit Stadtansichten von Moskau und Sankt Petersburg bemalt haben.«
Ruben erzählte Eva, wie er mit seiner Mutter über den Jahreswechsel Bildbände gewälzt und Unmengen von Fotos im Internet gesichtet hatte. Sie hatten gemeinsam das Café angeschaut, Skizzen gezeichnet, Pläne gemacht. In seiner Stimme hörte Eva die Begeisterung. Vermutlich wäre er am liebsten dort geblieben und hätte mitgeholfen, die Wände des Cafés zu bemalen.
»Lernst du immer noch Russisch?«
Eva nickte. Es freute sie, dass Ruben sich erinnerte. Sie hatte ihm vor Weihnachten einige der Bücher und Lexika gezeigt, die sie sich besorgt hatte, um in die Geheimnisse der russischen Sprache einzudringen. Im Gegenzug hatte er ihr eine Menge umgangssprachlicher Ausdrücke und ein ganzes Repertoire an ausgefallenen Flüchen beigebracht. Auch wenn sein Zugang zu fremden Sprachen ganz anders war als ihr eigener, fühlte sich Eva doch zum ersten Mal verstanden. Ruben schien etwas zu begreifen von der Ehrfurcht, die sie empfand, wenn sie das erste Mal den Fuß auf unbekannten Boden setzte, wenn sie versuchte, grammatische Strukturen zu durchdringen wie noch nicht erforschte Gebiete eines Dschungels. Auch jetzt hörte er voller Aufmerksamkeit zu, während Eva ihm erzählte, wie weit sie bisher gekommen war.
Der Geruch von Gorgonzola ließ sie aufschauen.
»Einmal Reis mit Hühnchen und ein Tagesessen. Guten Appetit.«
Die Bedienung stellte zwei Teller auf den Tisch. Ruben schaute Eva an und lächelte.
»Prijatnowo apetita!«
Eva spießte ein Stück Fleisch auf die Gabel. Inzwischen war ihr angenehm warm. Das Café war etwas leerer geworden, der Hauptansturm zur Mittagszeit war vorüber und für Kaffee und Kuchen war es noch zu früh. Vor dem Fenster sah Eva die Schneeflocken tanzen. Sie kaute ihr Stück Fleisch, probierte ein wenig von dem Reis. Für einen Moment schien alles in Ordnung.
Die Attacke kam wie ein Faustschlag. Panisch riss Eva sich hoch und rannte zur Toilette. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor sie sich übergeben musste. Zitternd kniete sie auf dem Boden der Toilettenkabine, eine Hand an der Seitenwand, Halt suchend. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
»Eva?«
Von draußen hörte sie Rubens Stimme. Langsam zog sie sich hoch, klappte den Toilettendeckel herunter und setzte sich. Das Zittern wich nach und nach einem diffusen Schwindelgefühl. Es war, als müssten die verschiedenen Körperteile erst wieder an ihren gewohnten Platz zurückfinden. Sie legte die Hände auf die Knie, holte Atem.
«Ist alles in Ordnung?«
Eva schwieg. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie nicht wusste, was mit ihr los war? Sie hatte sich geweigert, darüber nachzudenken. Hatte das Problem beiseite geschoben, es ignoriert, als würde es dadurch von allein verschwinden. Jetzt saß sie hier. In ihr nur Schwindel und Leere. Stille. Vorsichtig stand sie auf, ging zum Waschbecken. Ihr Gesicht im Spiegel sah bleich aus. Sie wusste nicht, wie lange sie auf der Toilette gesessen hatte. Eva drehte den Wasserhahn auf, wusch sich Hände und Gesicht und spülte den galligen Geschmack aus dem Mund. Dann öffnete sie die Tür. Ruben stand im Flur. Er sah Eva an, nahm ihre Hand. Zusammen gingen sie zurück ins Café. Das Essen auf ihren Tellern war kalt geworden. Sie saßen nebeneinander auf der Bank, Eva fühlte sich ausgelaugt und immer noch leicht schwindelig. Sie schaute auf ihre Hände, die sie zwischen die Oberschenkel gepresst hatte, als könnte sie sich damit ein wenig Stabilität verschaffen. Nach einer Weile strich Ruben ihr sanft übers Haar.
»Bist du schwanger?«
Eva presste ihre Hände noch fester aneinander. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Nein, sicher war es etwas Anderes. Wie kam Ruben überhaupt auf die Idee, sie so etwas zu fragen?
»Cristina. Bei ihr war es auch so, jedes Mal.«
Er sagte es, als hätte Eva ihre Frage laut gestellt. Rubens große Schwester hatte drei Kinder, das wusste sie aus seinen Erzählungen.
»Das muss gar nichts heißen.«
Panik stieg in ihr auf. Der Schwindel wurde wieder stärker. Eva spürte, wie sie die Schultern anspannte. Sie schaute zu Ruben, der sich mit beiden Händen durch die dunklen Locken fuhr. Er sah sie nicht an.
»Von mir?«
»Ich habe doch noch gar keinen Test gemacht!«
Die Vehemenz war aus ihrer Stimme gewichen. Sie war auf einmal unsäglich müde. Ihre Schultern schmerzten.
»Ja.«
Sie sagte es leise, fast flüsterte sie. Ruben saß einen Moment lang einfach nur da. Dann drehte er sich zu ihr, löste vorsichtig eine Hand aus ihrer Umklammerung und nahm sie in seine.
»Bist du sicher? Ich meine – was ist denn mit deinem Freund?«
Eva starrte auf die Tischkante. Langsam verschwamm die Kontur vor ihren Augen. Tränen liefen ihr die Wange hinunter. Sie biss sich auf die Lippen. Wäre sie nur nicht gekommen! Verzweifelt versuchte sie, die Tischkante wieder zu fixieren. Sie konnte Ruben nicht anschauen. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
»Er war nicht da. Immer, wenn wir uns treffen wollten, war er nicht da. Ich hatte so gehofft. Und dann …«
Ruben ließ ihre Hand los. Er saß neben ihr, reglos. Eva sah, dass er die Augen geschlossen hatte. Schließlich drehte er sich wieder zu ihr.
»Bueno, nos espera un reto. Wir haben eine Aufgabe. Die müssen wir jetzt gemeinsam meistern.«
Seine Stimme klang entschlossen. Eva fühlte die Panik wieder aufwallen wie eine Flutwelle, die sie mit sich fortriss, in der sie zu ertrinken drohte. Sie sprang auf, schnappte nach Luft. Dann rannte sie los.
»Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir …«
Auf dem kalten Boden im Seitenraum der Sankt-Josefs-Kirche kniend, betete Eva das Ave-Maria. Wieder und wieder sprach sie die Worte. Ihre Hände umklammerten die kleinen Perlmutt-Perlen des Rosenkranzes. Zu Füßen der Mutter Gottes hatte sie weiße Christrosen in einer schlichten Glasvase drapiert. Es war dunkel. Vorn im Altarraum waren zwei der Deckenstrahler ausgefallen. Nur die Altarkerzen, die der Messner schon für die Abendandacht angezündet hatte, gaben flackernd ein wenig Licht. Das Päckchen mit dem Pfeifentabak für ihren Vater hatte sie auf den Boden gestellt, ihre Handtasche lag auf einem Stuhl. Eva hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch am Mittag im Café vergessen.