Katrin Köhl

Windmühlentage


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Nussgipfel sind herrlich!«

      Eva nahm sich eins der Teilchen und lud noch ein Croissant und ein Brötchen auf ihren Teller. Die Dame schien sich auszukennen. Mit sicherem Griff sammelte sie alle möglichen Leckereien zusammen und trug sie nach und nach zum Tisch. Eva nahm sich ein Kännchen heiße Milch und einen Beutel Ovomaltine. Zurück an ihrem Platz, sah sie, dass ihre Tischnachbarin das Frühstück wie ein Kunstwerk vor sich aufgebaut hatte: Den Nussgipfel in der Mitte, eine Teekanne, Ei, Brötchen, Marmeladenschälchen, Butterstücke auf einem kleinen Teller. Kerzengerade saß sie da, im grünen Samtjäckchen, als wäre sie eine Kompaniechefin und die bunten Köstlichkeiten vor ihr die Truppe, die sie befehligte.

      Eva setzte sich, rührte Ovomaltine in ihre Milch. Musste sie jetzt etwas sagen? Ein Gespräch beginnen? Verstohlen blickte sie auf das Titelblatt der Zeitung. Ihr Gegenüber nahm ihr die Entscheidung ab.

      »Sind Sie zum ersten Mal in Zürich?«

      Eva nickte.

      »Eigentlich bin ich auf dem Weg zu Freunden nach Italien.«

      Sie hatte es gesagt, ohne nachzudenken. War es das, was sie wollte? Nach Italien fahren? Das Bagno, den Ort ihrer Kindheit, gab es nicht mehr. Der Betrieb existierte zwar weiter, aber die Familie Bertoni hatte damit nichts mehr zu tun. Außer vielleicht Signor Bertonis Schwester Alba. Ob sie immer noch in der Küche arbeitete? Wie alt mochte sie inzwischen sein? Nach dem Tod des Padrone hatte die Familie eine Zeit lang in Mailand gewohnt, doch inzwischen lebte nur noch die älteste Tochter Anna dort. Livia, Bertonis Frau, war, als ihre Mutter pflegebedürftig wurde, wieder in ihren Geburtsort Bozen gezogen. Die jüngste Tochter, Giulietta, folgte ihr nach dem Ende einer langjährigen Liebesbeziehung dorthin. Luisa, die mittlere der drei Töchter, war in Sizilien verheiratet.

      Eva schaute wieder zu ihrer Tischnachbarin.

      »Und Sie? Machen Sie Urlaub?«

      »Ich gehe in die Oper. Figaros Hochzeit.«

      Sie klapperte mit dem Löffel in ihrer Teetasse.

      »Sie sollten auch in die Oper gehen. Oder in die Tonhalle. In Zürich wird wundervolle Musik gemacht.«

      Die Ältere lächelte, biss genüsslich in ihren Nussgipfel und zeigte dann nach draußen.

      »Es wird ein schöner Tag heute. Ein paar Wolken, vielleicht gibt’s später etwas Regen, aber wenn Sie Glück haben, scheint im Lauf des Vormittags die Sonne. Dann müssen Sie ins Großmünster gehen. Die Giacometti-Fenster strahlen, wenn die Sonne hindurch fällt!«

      Eva bedankte sich für den Tipp, aß den Rest ihres Brötchens. Dann wünschte sie der Älteren noch einen schönen Tag und stand auf.

      Vorn der Zürichsee, im Hintergrund schneebedeckte Gipfel. Ein Postkartenidyll. Touristen posierten für Fotos oder standen mit Eiswaffeln an der Brüstung der Aussichtsplattform. Eva fühlte sich fehl am Platz. Was wollte sie hier? Hatte sie gehofft, irgendeine wundersame Verbindung zu dem Ort zu spüren, an dem sie geboren war? Nachdem Bernd Zürich mit seiner neugeborenen Tochter verlassen hatte, waren sie nie wieder hier gewesen. Zu Signor Bertonis Bagno in Italien fuhren sie durch Österreich. Eva stellte keine Fragen. Sie ahnte, dass die Erinnerung an den Tod ihrer Mutter zu schmerzhaft für den Vater war. Wie war Marie genau gestorben? War Bernd in dem Moment bei ihr? Wo waren Maries Eltern? Eva wusste es nicht. Genau genommen konnte sie nicht einmal sicher sein, dass ihre Mutter tatsächlich tot war. Aber die Vorstellung, dass Marie noch leben könnte, barg zu viele Gefahren, als dass Eva sich je weiter in dieses Terrain gewagt hätte. Allein der Gedanke wäre ein Vertrauensbruch mit dem Vater gewesen. Wollte sie etwa sein Wort anzweifeln?

      Eine Schulklasse, die lachend und lärmend auf die Aussichtsplattform stürmte, riss Eva aus ihren Gedanken. Sie schaute noch einmal zu den malerischen Bergspitzen in der Ferne. Dann drehte sie sich um, überquerte den Quai und bog in die Bahnhofstraße ein. Sie würde sich die Abfahrtszeiten der Züge notieren. Morgen wollte sie nach Hause fahren. Bernd würde den Kopf schütteln über ihre sinnlose Reiseaktion: Mensch, Eva!

      In der Bahnhofshalle herrschte ein Gewirr aus Stimmen, Menschen eilten in verschiedene Richtungen. Koffer in allen Größen schepperten auf winzigen Rollen über den Steinfußboden. Das Kreischen von Bremsen, Ansagen aus Lautsprechern, der nie versiegende Strom der Reisenden. Bereits am Tag zuvor hatte Eva sich in dem Gewimmel unbehaglich gefühlt. Sie war normalerweise nur mit dem Auto unterwegs. Erst als sich am Stuttgarter Hauptbahnhof die Tür des Zuges hinter ihr geschlossen hatte, war ihr bewusst geworden, dass dies tatsächlich ihre allererste Bahnfahrt war. Die Fahrkarte noch in der Hand, hatte Eva den Großraumwagen betreten und sich auf einen der nächstgelegenen Sitzplätze gesetzt. Kurz darauf kam ein Mann mit einem schweren Koffer, den er über Eva auf die Gepäckablage hievte.

      »Sie sitzen auf meinem Platz.«

      Er wedelte mit seiner Fahrkarte, hielt sie Eva hin. Schnell erhob sie sich. Sie murmelte eine Entschuldigung und ging weiter durch den Wagen. Jetzt fielen ihr die Reservierungsschilder über den Sitzplätzen auf. Eva überlegte, ob sie sich einfach in den Gang stellen sollte. Wie lange dauerte die Fahrt bis Zürich? Konnte sie die ganze Zeit stehen? Schließlich setzte sie sich auf einen Platz, über dem Gegebenenfalls freigeben stand. Bei jedem Halt hatte sie Angst, es könnte wieder jemand kommen und sie darauf hinweisen, dass sie zu Unrecht hier saß. Erst wenn der Zug wieder Fahrt aufgenommen hatte, entspannte sie sich. Neben ihr saß eine füllige Frau in pinkfarbenem T-Shirt. Sie blätterte in einer Zeitschrift. Aus einer großen Tasche, die zwischen ihren Füßen stand, zog sie nach und nach einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Verpflegung hervor. Wurstbrote, Schokoriegel, eine matschig gewordene Banane, Kekse, Salzstangen. Der Geruch des Essens mischte sich mit dem leichten Schweißgeruch der Frau. Eva rückte etwas zur Seite. Zu weit nach außen konnte sie allerdings auch nicht rutschen, da auf der anderen Seite ein Mädchen auf dem Sitz lag, dessen Füße über die Armlehne in den Gang ragten. Sollte sie noch einmal aufstehen und sich einen anderen Platz suchen? Womöglich hielt der Zug gleich wieder, eine Menge Leute stiegen ein, und dann wäre nirgends mehr etwas frei. Besser blieb sie hier sitzen. Welche Enge in so einem Zug herrschte. Hätte sie doch ihr Auto genommen! Irgendwann stand sie auf und folgte den Hinweisschildern zum Speisewagen. Sie kaufte ein belegtes Brötchen, aß es stehend im Gang zwischen zwei Waggons. Als ihr Rücken zu schmerzen begann, ging sie zurück zu ihrem Platz. Die drei Stunden Fahrt kamen Eva ewig vor. Dann stand sie am Zürcher Hauptbahnhof. Ohne Ziel, ohne Plan. Am liebsten wäre sie sofort wieder nach Hause gefahren. Aber die Vorstellung, weitere drei Stunden in einem Zug zu verbringen, erschien ihr unerträglich. So war sie einfach losgelaufen. Hatte das Hotel entdeckt und ein Zimmer gebucht.

      Eva studierte die Tafel mit den Abfahrtszeiten, schrieb mögliche Zugverbindungen auf einen Zettel. Dann besorgte sie sich in einem Kiosk einen kleinen Stadtplan. Wenigstens das Großmünster, das ihr die Dame beim Frühstück so ans Herz gelegt hatte, wollte sie besichtigen.

      Sie öffnete die schwere Tür. Über dem Halbdunkel des Kirchenraums mit seinen braunen Holzbänken wirkte die Decke im einfallenden Sonnenlicht hell, fast weiß. Eva wandte sich nach links zum Chorraum. Jetzt sah sie sie. Drei hohe Fenster. Ein Meer aus Farben. Das Gewand der Gottesmutter blau, leuchtend. Wie das Meer an einem hellen Frühlingstag. Sie dachte an Signor Bertonis Bagno. Die morgendliche Kühle, kleine Wellen, die an den Strand schwappten. Über ihr der Himmel, weit und offen. Hatten ihre Eltern ihn auch so gesehen, damals in dem Sommer vor Evas Geburt? Der Deutsche und die Schweizerin, zwei junge Menschen, die sich kaum kannten. Was hatte ihre Mutter gedacht, als der blonde Junge mit dem Moped auf den Hof ihrer Eltern gefahren kam und um ein Nachtlager in der Scheune bat? Hatte er ihr gleich gefallen? Und er? War er müde gewesen von der langen Fahrt? In Gedanken schon am Mittelmeer? Er sah nicht viel von ihr an diesem Abend, die Bäuerin schickte ihre Tochter nach drinnen. Es sollte noch Marmelade eingekocht werden. Eva kannte die Geschichte, jedes Detail, sie hatte sich als Kind gern die riesigen Töpfe mit Himbeermarmelade auf dem alten gusseisernen Herd vorgestellt. Wieder und wieder hatte sie ihren Vater gefragt, wie es war, als er die Mutter traf. Marie kam in der Nacht. Legte sich zu ihm und blieb. Noch bevor es hell wurde, fuhren sie gemeinsam los. Immer weiter Richtung Süden, der Sonne und der Freiheit entgegen. Dann das Bagno. Eva sah die Terrasse vor sich, die Liegestühle am Strand, die sie mit dem