sie mit einer weiteren bunten Tüte das Geschäft. In einem Kaufhaus besorgte sie sich Lockenwickler und eine nach Rosen duftende Körpermilch. In einem Café in der Altstadt ließ sie sich nieder, bestellte etwas zu essen und streckte die Beine aus.
Am Nachmittag machte Eva sich auf zum Theater. Im Hotel studierte sie den Stadtplan, um sicher zu gehen, dass sie die richtige Straße wiederfand. Die Eingangstür war wie am Tag zuvor offen. Im Foyer war niemand zu sehen. Eva holte sich einen Hocker hinter der Theke und setzte sich. Sie betrachtete die Bilder an den Wänden, wartete. Würde Sergejs Frau sie hier abholen? Eva schaute auf die Uhr. Es war schon kurz nach vier. Sie blickte zu der Tür, die wohl in den Theatersaal führte. Sollte sie einen Blick hineinwerfen? Vielleicht war dort jemand, den sie nach Alla fragen konnte. Sie stand auf, öffnete einen Flügel der breiten Tür. Rechts und links eines Mittelgangs standen je zehn Reihen Stühle. Auf der Bühne bauschte sich ein Berg aus blauem Samtstoff. Eva schaute sich um, konnte aber niemanden entdecken.
»Hallo?«
Keine Reaktion. Vielleicht hatte sie zu leise gerufen. Zögernd ging Eva ein paar Schritte durch den Mittelgang in Richtung Bühne.
Rechts vorn, neben einer Treppe zur Bühne, sah sie eine weitere Tür, dahinter einen Flur. Von dort waren jetzt Geräusche zu hören. Eva wollte gerade noch einmal rufen, als eine große, stämmige Frau in den Saal kam. Sie hatte einen zerbeulten Karton im Arm, den sie auf die Bühne hievte.
»Hallo, entschuldigen Sie …«
»Ja?«
Die Frau blinzelte zu Eva hinüber, vom Licht der Bühnenscheinwerfer geblendet.
»Ich hatte gestern mit Sergej gesprochen. Er hat mich für heute um vier Uhr hierher bestellt. Sind Sie Alla?«
Die Frau schnaubte.
»Das ist typisch. Ich weiß wie immer von nichts!«
Sie stapfte an der Bühne vorbei durch den Mittelgang zu Eva. Die Hand, die sie ihr entgegenstreckte, war kräftig, ein wenig rau.
»Ich bin Alla. Willkommen im Arbat. Worum geht es?«
»Das Projekt mit den spanischen Gästen – Sie brauchen eine Dolmetscherin?«
»Ah, du musst Irina sein. Gut, dass du da bist. Was gibt‘s Neues von Natascha, warst du heute schon im Krankenhaus?«
Sie hatte ins Russische übergewechselt. Jetzt wandte sie sich um und ging zurück zur Bühne.
»Die Formalien können wir später regeln. Hilfst du mir mal, den Wandbehang auszubreiten?«
Projektvorbereitung. Viel zu tun, die Zeit ist knapp, jeder packt mit an. Es war wie gestern mit Sergej. Wäre sie doch Irina! Die Freundin von Natascha müsste nicht erklären, warum sie hier war. Sie würde einfach mit anfassen, mühelos Teil der Gruppe werden, als Russin unter Russen, legitimiert durch die gemeinsame Bekannte. Eva räusperte sich.
»Menja sowut Eva Brandes. Mein Name ist Eva Brandes.« Da Alla auf Russisch mit ihr sprach, blieb Eva ebenfalls dabei. »Ich hatte mich gestern nur kurz vor dem Regen untergestellt. So kam ich mit Ihrem Mann ins Gespräch. Irina ist nicht gekommen, und da ich Russisch und Spanisch spreche …«
Alla hielt inne. Sie drehte sich wieder zu Eva um.
»Oh, verzeih! Ich dachte …«
Sie schaute Eva an, jetzt erst schien sie ihren Bauch zu bemerken.
»Wann ist es soweit?«
»In gut zwei Monaten.«
Alla nickte. Eva holte tief Luft.
»Ich kann nicht bleiben. Mein Hotel ist ausgebucht, ich konnte das Zimmer nicht verlängern und wegen der Messe gibt es wohl auch sonst nirgends etwas. Ich werde nach Hause fahren.«
Alla machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie setzte sich auf den Bühnenrand, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Einen Schlafplatz finden wir immer für dich. Zur Not kommst du zu mir und Sergej. Wird ein bisschen eng, aber das geht schon. Vielleicht könnte auch Olga …«
Alla überlegte einen kurzen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern, stand auf und streckte Eva die Hand hin.
»Mir fällt schon was ein. Komm hoch! Wir schauen uns den Wandbehang an, dabei kannst du mir mehr von dir erzählen.«
Anders als Sergej schien Alla nicht besorgt wegen Evas Schwangerschaft. Sie zog sie auf die Bühne und lachte.
»Man wird etwas unbeweglich gegen Ende, nicht? Als ich mit Nikita schwanger war, waren wir auf Tournee in Polen. Damals war der eiserne Vorhang gerade erst gefallen. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer wir auf den holperigen Landstraßen unterwegs waren. Und an jedem neuen Ort musste wieder das große Zelt aufgebaut werden. Das war was!«
Alla sprach weiterhin russisch und nicht gerade langsam. Sorgen, dass Eva sie nicht verstehen könnte, schien sie sich nicht zu machen. Sie beugte sich über den Berg aus blauem Samt.
»Hier, nimm das eine Ende und zieh es nach außen, bis zum Rand der Bühne.«
Eva zog an dem Stoff, während Alla versuchte, in dem Gewirr eine zweite Ecke zu finden. Einen Moment arbeiteten sie schweigend.
»Du bist keine Schweizerin, oder?«
Eva schüttelte den Kopf.
»Ja is Germanii. Ich komme aus Deutschland.«
»Machst du Urlaub in Zürich?«
Sie hatten den gesamten Behang ausgebreitet. Das glänzende Blau ergoss sich über den Bühnenboden. Im Licht der Scheinwerfer leuchtete es wie Marias Mantel in der Mittagssonne. Eva strich mit der Hand über eine Ecke des weichen Stoffs.
»Ich wollte eigentlich zu einer Freundin nach Italien. Aber jetzt bin ich erst einmal hier. Meine Mutter stammt aus Zürich.«
Sie senkte den Kopf, strich weiter über den glatten blauen Samt, dann gegen den Strich, rau und kratzig. Alla ging prüfend um den Stoff herum.
»Beim letzten Mal war mir irgendwo ein Loch aufgefallen, aber ich weiß nicht mehr genau, wo es war. Bevor ich dazu kam, es zu stopfen, hatte Maxim den Behang schon wieder verpackt. Siehst du was?«
Eva schaute ebenfalls.
»Njet. Nitschewo.«
Alla schaute sie an.
»Du sprichst praktisch akzentfrei russisch. Warst du länger im Land? Wo hast du gelernt?«
»In Russland war ich leider noch nie. Ich habe die Sprache für mich allein gelernt. Mit Büchern, CDs und Internet.«
»Molodez! Das ist ja toll. Ich könnte das nicht. Und Spanisch?«
»Genauso.«
Alla lachte.
»Du bist also ein Wunderkind.«
Eva schaute erstaunt von dem blauen Samtmeer auf. Wunderkind? Das hörte sich an, als hätte sie eine komplizierte Aufgabe mit Bravour gemeistert. Eine Leistung erbracht, für die man sie bewundern musste. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Beschäftigung mit Fremdsprachen so zu beschreiben. Im Gegenteil. Sprache, das war die einfache Welt, ihr Rückzugsort. Hier stellte niemand Ansprüche, sie musste nichts leisten oder richtigmachen. Grammatik war einfach da. Sie existierte als wunderbares System, das sich von allein vor ihr entfaltete, je weiter sie eindrang. Eva fühlte sich darin wie in einem freundlichen Wald, der sie beschützte und an dessen zahllosen Weggabelungen es keinen falschen Abzweig gab. Jeder Pfad führte zu neuen Entdeckungen, nie konnte sie sich im Dickicht verlieren. Der Wald selbst schien ihre Schritte zu lenken und sie wusste, anders als in allen restlichen Bereichen ihres Lebens, dass sie immer hindurchfinden würde. Was die Aussprache anging, so brauchte sie nur auf das Rauschen der Bäume zu hören. Das Rascheln der Blätter, ein Knarzen der Äste, das Summen, Scharren und Pfeifen winziger Tiere. All die kleinen Geräusche, die den Wald lebendig machten. Sie wurde ganz Ohr, tauchte ein in das Rauschen, bis sie selbst zum Baum wurde, der sich