Katrin Köhl

Windmühlentage


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Farbe und sogar ein Stückchen Garten. Zwischen den Häuserzeilen verliefen schmale Fußwege. Hinten rauschte die Limmat. Olga blieb vor einem rosafarbenen Haus stehen und drückte auf den Klingelknopf. Die Tür öffnete sich. Eva sah eine hochgewachsene schlanke Frau mit blonden Locken. Ein kleiner Junge, vielleicht zwei Jahre alt, schob sich an ihr vorbei ins Freie und kam auf wackeligen Beinchen den Gartenweg entlanggelaufen. Olga breitete die Arme aus, nahm ihn hoch und wirbelte ihn durch die Luft. Er kreischte freudig. Nun kam auch die junge Frau den beiden entgegen.

      »Bonjour, Olga, ça va?«

      Sie gab Olga rechts und links ein Küsschen, dann begrüßte sie Eva auf die gleiche Weise.

      »Bonjour, ich bin Florence.«

      »Eva.«

      Gemeinsam gingen sie ins Haus. Im Erdgeschoss waren Nataschas und Grischas Zimmer, der Rest wurde von einer große Wohnküche eingenommen.

      »Möchtet ihr Tee?«

      Olga setzte den Kleinen ab und holte wieder ihr Taschentuch hervor.

      »Für mich höchstens ein Tässchen, wir hatten gerade schon Tee im Arbat.«

      Eva bat um ein Glas Wasser und setzte sich auf einen der Klappstühle, die um den Küchentisch standen. Der Junge kam wieder angewackelt, diesmal mit einem Buch in der Hand. Er ging auf Eva zu und hielt sich an ihrem Hosenbein fest.

      »Ischa, tscha!«

      Olga lachte.

      »Mit Ischa meint er sich selbst, tscha bedeutet tschitat. Er möchte, dass du ihm vorliest.«

      Grischa zog an Evas Bein. Sie lächelte unsicher, stand dann auf und hielt ihm ihre Hand hin. Er ergriff einen Finger und stapfte los Richtung Flur. Eva folgte ihm. Er hatte ein eigenes kleines Zimmerchen, das mit dem seiner Mutter verbunden war. Dort saßen sie nun zu zweit auf einem Sessel. Eva öffnete das russische Bilderbuch. Mascha und der Bär. Sie las, wie Mascha mit Großmutter und Großvater in den Wald ging, um Beeren und Pilze zu sammeln, wie sie allein in die Hütte des Bären geriet und sich schließlich mit einer List wieder befreien konnte. Der Kleine blickte gebannt auf die Seiten. Als Eva zu Ende gelesen hatte, sagte er etwas, das sie nicht verstand. Was er meinte, war trotzdem klar. Sie schlug das Buch vorn wieder auf und begann erneut vorzulesen. Nicht mehr lang und sie würde ihrem eigenen Kind Bücher vorlesen. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Sie gestatte sich nicht, an das Kind zu denken. Versuchte, überhaupt nicht zu denken. Die Geburt. Ein Punkt wie eine gleißende Sonne, auf den sie mit rasender Geschwindigkeit zusteuerte. Keine Möglichkeit zu bremsen, kein Ausstieg. Sie würde verglühen, ausgelöscht in einem einzigen Augenblick wie ihre Mutter. Grischa war aufgestanden und hatte aus einer Kiste ein neues Buch geholt. Er legte es auf ihre Knie und sagte etwas. Als sie nicht reagierte, klappte er erwartungsvoll den Deckel auf. Sie begann zu lesen, hörte gleichzeitig, wie Florence im Flur telefonierte. Es ging um ihre Unterkunft. Vermutlich sprach Florence mit dem Mädchen, das gerade in Polen war. Eva merkte, wie sie das Bilderbuch fester umfasste. Wenn sie hier für die nächsten Tage unterkam, konnte sie nicht mehr zurück. Worauf hatte sie sich eingelassen? Wäre es nicht das Einfachste gewesen, nach Hause zu fahren? Was, wenn es nun mit dem Spanischen nicht so gut klappte wie mit Russisch? Und selbst wenn – vielleicht konnte sie jede der beiden Sprachen leidlich sprechen. Aber Übersetzen, das war noch einmal etwas ganz Anderes. Was, wenn sie es nicht konnte? Alle würden sie anschauen, darauf warten, dass sie etwas sagte, und sie würde keinen Ton herausbekommen, alle Vokabeln wären aus ihrem Kopf gefegt wie Blätter, die der Wind verwirbelt. Grischa zog an ihrem Ärmel.

      »Tscha, tscha!«

      Eva lächelte ihn an.

      »O.k., das eine noch, dann gehe ich wieder in die Küche.«

      Sie las das Märchen vom Fischer und dem Fisch.

      Als sie vom Sessel aufstehen wollte, nahm Grischa wieder ihren Finger. Sie spürte den festen warmen Griff seiner kleinen Hand.

      »Du möchtest mit? Na dann komm.«

      Gemeinsam gingen sie bis in den Flur. Dort blieb Grischa stehen und streckte beide Hände nach oben. Flehentlich sah er Eva an. Sie lachte.

      »Ich weiß nicht, ob ich dich tragen kann. Na, versuchen wir es.«

      Sie nahm ihn hoch und setzte ihn auf ihre Hüfte. Er war schwerer als sie gedacht hatte. Der Kleine gluckste. Dann steckte er den Daumen in den Mund, kuschelte sich an Evas Seite und schloss die Augen. Eva ging zurück in die Küche und setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl.

      »Ihr habt schon Freundschaft geschlossen. C’est formidable!«

      Florence lehnte an der Küchenanrichte. Sie nahm einen Schluck aus einem Kaffeebecher.

      »Ich habe eben mit Patrycja gesprochen. Du kannst für die nächsten Tage in ihr Zimmer ziehen. Sie ist erst in zwei Wochen wieder da.«

      Eva fühlte, wie ihr Herz klopfte.

      »Danke, dass ihr mich aufnehmt.«

      Ihre Hand zitterte leicht, als sie Grischa übers Haar strich. Der Kleine hatte sich auf ihrem Schoß zusammengerollt und war eingeschlafen.

      Im Hotel nahm Eva das neue schwarze Kleid aus der Tüte und hängte es auf einen Bügel. Sie strich über den fließenden Stoff, fühlte die glitzernden Perlen und Pailletten. Dann zog sie sich aus und ging ins Bad. Unter der Dusche dachte sie an die vergangenen Stunden. An die Menschen, die sie in dieser kurzen Zeit kennengelernt hatte. Frau della Ponte, Alla, Olga, Tolja und Maxim. Florence und Grischa. Zwei Tage. Es kam ihr vor, als wäre sie schon viel länger in Zürich. Sorgfältig drehte sie ihre Haare auf, cremte sich mit der duftenden Rosenlotion ein, begann, sich anzuziehen. Zuletzt föhnte sie die Haare, kämmte sie und steckte sie hoch. Sie hatte zu Hause einmal in einer Zeitschrift eine Hochsteckfrisur gesehen, die ihr besonders gut gefiel. Daraufhin hatte sie vor dem Spiegel geübt, bis das Ergebnis so aussah wie auf dem Bild. An dem Abend war sie allein im Haus gewesen. Bernd war direkt vom Büro zu irgendeiner Demo aufgebrochen. Immer wieder im Verlauf des Abends ging sie zum Spiegel und bewunderte ihre schöne Frisur. Bevor ihr Vater nach Hause kam, zog sie alle Nadeln wieder aus dem Haar und band sich schnell ihren üblichen Pferdeschwanz. Jetzt nahm sie vorsichtig Locke für Locke, steckte sie fest und betrachtete das Ergebnis kritisch im Hotelspiegel. Zum Schluss befestigte sie noch die rote Blumenspange an einer Seite über dem Ohr. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Die träge Schwerfälligkeit, die sie am Morgen gespürt hatte, schien verschwunden. Sie fühlte zwar die Anstrengung des Tages, hoffte, dass sie in der Oper nicht zu müde würde. Aber was sie im Spiegel sah, gefiel ihr. Es gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein, sinnlich, weiblich, begehrenswert. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Halb acht. Sie musste nach unten.

      Die alte Dame stand schon in der Lobby. Sie trug einen langen schwarzen Samtrock und eine taillierte dunkelgrüne Seidenjacke darüber. An ihrer Hand baumelte ein winziges, perlenbesticktes Täschchen. Als sie Eva erblickte, strahlte sie.

      »Mein Kompliment! Sie sehen bezaubernd aus. Und so eine hübsche Frisur!«

      »Das Kleid habe ich heute Morgen gekauft. Für einen Opernbesuch muss man sich doch feinmachen.«

      Frau della Ponte nickte ihr zu.

      »Ich teile Ihre Meinung absolut. Es ist eine Unsitte, dass manche Leute jetzt schon in Jeans in die Oper gehen!«

      Sie wies zur Eingangstür und winkte Eva, ihr zu folgen.

      »Kommen Sie, meine Liebe. Ich glaube, unsere Taxe ist da.«

      Schon als sie vor der Oper die Stufen nach oben stiegen, wurden sie von mehreren Leuten gegrüßt. Im Foyer kamen zwei Paare mit Sektgläsern auf sie zu.

      »Frau della Ponte! Wie schön, Sie wieder einmal in Zürich zu sehen. Und in so charmanter Begleitung. Guten Abend.«

      Frau della Ponte stellte Eva als Bekannte aus Deutschland vor. Sie wechselte ein paar Belanglosigkeiten mit den zwei Frauen, erkundigte sich bei den Männern nach dem Gang der Geschäfte. Man war sich einig, dass der Sommer ungewöhnlich heiß, die Zeiten allgemein schwierig und die Exportmärkte