Katrin Köhl

Windmühlentage


Скачать книгу

um die nächsten Bekannten zu begrüßen. Die alte Dame beugte sich zu Eva.

      »Präzisionsmessgeräte und Tauchausrüstung. Zwei Traditionsunternehmen, wir kennen uns schon lange. Die Frauen sind zwei der wichtigsten Society-Ladies hier. Die wollten wissen, ob die Familie Nachwuchs erwartet. Das hätte schönen Stoff für Klatsch und Tratsch abgegeben. Möchten Sie etwas trinken?«

      »Nein, danke, vielleicht in der Pause.«

      Eva hatte Angst, dass sie während der Vorstellung zur Toilette musste. Sie hoffte, dass sie bis zur Pause durchhielt. Das letzte Mal war sie mit Ruben vor drei Monaten in der Oper gewesen, da war ihr das Sitzen gegen Ende des ersten Aktes schon unbequem geworden. Es läutete. An der Seite von Frau della Ponte betrat Eva den Saal. Unter dem großen Kronleuchter, umgeben von Goldschnörkeln und dem roten Samt der Sitze, fühlte sie sich in ihrem Kleid wie bei einem Galaempfang. Ihre Plätze waren im Parkett, achte Reihe. Eva strahlte. Noch nie hatte sie in der Oper auf einem so guten Platz gesessen. Die Karte war sicher sehr teuer gewesen. Bei den ersten Akkorden der Ouvertüre vergaß sie ihre Angst, zur Toilette zu müssen. Gebannt blickte sie zur Bühne, als sich der Vorhang öffnete. Sie dachte an Ruben. Was würde er zu dem Bühnenbild sagen? Er selbst arbeitete gerade mit an den Kulissen für eine opulent ausgestattete Inszenierung von Carmen. Eva nahm sich vor, ihn anzurufen und ihm von ihrem Abend in der Oper zu erzählen.

      Nach der Vorstellung lud Frau della Ponte Eva ein, mit ihr noch ein Gläschen zu trinken. Sie kenne ein vorzügliches kleines Restaurant ganz in der Nähe. Eva folgte ihr. Die Aufführung war wundervoll gewesen, sie wollte noch nicht zurück ins Hotel.

      »Wie hat es Ihnen gefallen, meine Liebe?«

      Frau della Ponte hatte Rotwein bestellt, Eva ein Glas Orangensaft.

      »Es war ein wundervolles Erlebnis.«

      »Die Ouvertüre war fast ein wenig zu schnell. Finden Sie nicht auch? Ich bin gegen diesen Trend, alles so schnell wie möglich zu spielen. Es tut der Musik nicht gut. Aber die Susanna war fabelhaft!«

      Eva stimmte ihr zu. Sie hatte die Aufführung von der ersten bis zur letzten Minute genossen. Sie nahm einen Schluck Orangensaft und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Eine wohlige Müdigkeit überkam sie. Die alte Dame holte ein akkurat gebügeltes Taschentuch aus ihrer Tasche und schnäuzte sich die Nase.

      »Morgen fahre ich wieder nach Basel zurück. Muss mich um den Hund kümmern und schauen, was die Geschäfte machen.«

      Sie zwinkerte Eva zu.

      »Mein Sohn hat es natürlich nicht so gern, wenn ich mich immer noch einmische. Aber ganz lassen kann ich es nicht. Fast dreißig Jahre an der Spitze eines Unternehmens, da geht man nicht einfach in den Ruhestand.«

      »Sie sind extra wegen der Oper nach Zürich gefahren?«

      Frau della Ponte drehte ihr Weinglas in den Händen, nippte daran.

      »Ich habe mit meinem Mann hier gelebt. An unserem Hochzeitstag sind wir immer in die Oper gegangen.«

      Die Ältere lächelte, dann schüttelte sie den Kopf.

      »Mein Mann war Arzt am Klinikum. Nie hat er sich geschont. Er war noch keine fünfzig, als er gestorben ist. Ein Herzinfarkt. Einfach so. Kurz darauf starb auch mein Vater. Da bin ich mit meinem Sohn zurück nach Basel gezogen, habe meine Mutter unterstützt und bin ins Geschäft eingestiegen. Aber ich gehe immer noch jedes Jahr an unserem Hochzeitstag in Zürich in die Oper. Ich glaube, es würde meinen Mann freuen.«

      Sie seufzte, dann lächelte sie wieder, blickte Eva auffordernd an.

      »Und was machen Sie morgen? Fahren Sie weiter nach Italien?«

      »Ich habe heute ganz unverhofft einen Job und eine neue Unterkunft bekommen.«

      »Ach?«

      »Ein kleines Theater hier suchte für ein Projekt eine Übersetzerin für Russisch und Spanisch. Eine Aufführung des Don Quixote. Morgen beginnen die Proben. Die Frau, die es eigentlich machen sollte, liegt mit Lungenentzündung in der Klinik. Ich kann solange in ihrer WG wohnen.«

      »Das sind ja spannende Entwicklungen. Wann findet die Aufführung statt?«

      »Am zweiten Juli.«

      »Und ihre Freundin in Italien?«

      »Ehrlich gesagt bin ich ziemlich spontan in diesen Urlaub aufgebrochen. Sie weiß noch gar nicht, dass ich komme.«

      Eva räusperte sich.

      »Ich weiß auch nicht, ob ich wirklich hinfahre. Wir haben uns seit unserer Jugend nicht gesehen. Jetzt bin ich jedenfalls erst einmal hier. Das Theaterprojekt hört sich interessant an.«

      Frau della Ponte begann wieder, ihr Weinglas zu drehen.

      »Sind Sie, wie soll ich sagen, ganz ungebunden in Ihrer Planung? Zu Hause wartet keiner auf Sie?«

      »Ja … nein, die Sache ist etwas kompliziert. Den Vater des Kindes kenne ich noch nicht so lange. Mein eigener Vater versteht sich mit ihm nicht besonders gut. Mir wurde das einfach alles zu viel.«

      »Oh, verzeihen Sie, ich wollte nicht indiskret sein.«

      Eva lächelte.

      »Das ist schon in Ordnung. Es tut gut, mit jemandem zu reden. Ich bin sonst viel allein.«

      Die alte Dame beugte sich zu ihr. Sie schob ihr Glas zur Seite, strich Eva leicht über den Handrücken.

      »Sie Arme. Was sagt denn Ihre Mutter dazu?«

      »Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben.«

      »Oh. Das tut mir leid.«

      Eva schüttelte den Kopf.

      »Eigentlich weiß ich es nicht sicher. Sie lebte wohl mit ihrer Familie etwas außerhalb von Zürich. Auf dem Weg in die Frauenklinik hatte sie einen schweren Unfall. Mich konnten die Ärzte retten.«

      Eine Weile war es still. Eva spürte, wie das Kind sich zu bewegen begann. Die alte Dame saß ganz gerade.

      »Sie sind also wegen Ihrer Mutter hier.«

      »Ja.«

      Eine Weile saßen sie schweigend beieinander. Die Ältere begann wieder, ihr Glas in den Händen zu drehen.

      »Jetzt, wo sie das erzählen, erinnere ich mich an eine Geschichte. Ein Kollege meines Mannes war in der Gynäkologie tätig. Er erzählte etwas von einer hochschwangeren Frau, die nach einem schweren Unfall eingeliefert wurde. Sie lag im Koma. Das Kind hatte wie durch ein Wunder keinen Schaden genommen. Der Vater konnte es nach wenigen Tagen nach Hause mitnehmen. Danach gab es einen Riesenkrach mit den Eltern der Frau. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht. Das war kurz vor dem Tod meines Mannes. Es muss also schon über dreißig Jahre her sein.«

      Eva fühlte ihr Herz. Die Schläge laut und schnell. Ihr Mund wie ausgetrocknet. Sie griff nach dem Saftglas. Es war leer.

      »Vierunddreißig. Ich bin vierunddreißig Jahre alt.«

      Frau della Ponte schaute sie an. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch. Ein leises Klacken in der Stille.

      »Wenn Sie möchten, kann ich Doktor Denisch anrufen. Wir sind immer noch im Kontakt. Nicht mehr so häufig wie früher, aber ich besuche ihn hin und wieder, wenn ich in Zürich bin. Er könnte Ihnen vielleicht mehr über den Fall damals erzählen.«

      Eva fühlte sich schwindelig. Die Frau im Koma, Doktor Denisch, Basel, der Hund. Tanzende Bälle in ihrem Kopf, die sie zu erhaschen suchte.

      »Sie müssen doch zurück …«

      »Anrufen kann ich ihn auch von zu Hause. Oder ich bleibe noch ein paar Tage in Zürich. Im Hotel du Lac ist vielleicht noch ein Zimmer frei.«

      »Und Ihr Hund?«

      »Der hat‘s gut bei der Schwiegertochter. Wissen Sie, auch wenn ich das ungern zugebe – im Grunde brauchen sie mich nicht in Basel.«

      Sie