Zelt aufgebaut hatten. Pinienzapfen, wilder Rosmarin und Thymian auf warmem sandigen Boden. Ihre Eltern hatten sich in diesem Duft geliebt. Gemeinsam waren sie am Strand spazieren gegangen, unter tausend Sternen, über ihnen der Himmel, weit und blau wie der Mantel der Gottesmutter. Eva schaute wieder zu dem großen Fenster, das die Sonne in seiner Farbigkeit erstrahlen ließ. Die Mutter. Wie sah sie aus? Eva besaß kein einziges Bild von ihr. Es gab keines, sagte Bernd. Marie hasste es, fotografiert zu werden.
Von hinten war Geraschel zu hören. Eva drehte sich um. Ein Mann und eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Die Mutter gab dem Kleinen ein Stück Brot aus einer Papiertüte. Der Vater holte einen Reiseführer hervor und begann, den Kopf zu seiner Frau geneigt, leise vorzulesen. Eva versuchte, zu erhaschen, welche Sprache er sprach. Auf jeden Fall etwas Osteuropäisches. Das Kind wedelte mit dem Arm, warf das Stück Brot auf den Boden und fing lautstark an zu brabbeln.
Eva setzte sich in eine der Bänke, blickte wieder auf das bunte Fenster. Kinderbilder. Schon oft hatte sie gedacht, dass es Bilder von ihrer Mutter als Kind geben müsste. Aus einer Zeit, in der sie sich noch nicht vor der Kamera versteckte. Fotos, die der stolze Vater von seiner Frau und dem Neugeborenen gemacht hatte. Familienbilder von Weihnachts- und Geburtstagsfesten, eingeklebt in Alben, immer wieder hervorgeholt und kopfschüttelnd betrachtet: Weißt du noch …? Dokumente eines jäh abgerissenen Familienlebens.
Eva stand auf. Sie wandte sich zum Gehen. Das Kind hatte zu weinen begonnen. Mit sanften Bewegungen schaukelte die Mutter es auf dem Arm. Sie raschelte wieder mit der Brottüte, holte ein neues Stückchen heraus. Eva drehte sich noch einmal zu der leuchtend blauen Madonna um. Die Gottesmutter hatte den Kopf leicht geneigt, die Hände zur Segensgeste erhoben. Das Kind zu ihren Füßen, nackt, unschuldig, schaute zu ihr empor. Eva lächelte. Sie legte die Hände schützend auf ihren Bauch. Im Hinausgehen sah sie, wie das nächste Stück Brot ebenfalls zu Boden fiel. Sie hörte das Kind lachen.
Als sie aus der Kirche trat, war der Himmel bedeckt. Eva schaute über den Platz zu der dahinter liegenden Fußgängerzone. Sollte sie einfach weiter durch die Stadt gehen? Rechts neben dem Eingang zum Großmünster stand ein Tor offen. Der Eingang zum Kreuzgang des früheren Chorherrenstifts. Stufen führten nach oben zu einer weiteren Tür. Eva öffnete sie und trat ein.
In der Mitte des Kreuzgangs plätscherte leise ein Brunnen. Die Beete waren üppig mit Kräutern und blühenden Stauden bepflanzt. Eva setzte sich auf einen der grünen Stühle, die vor den Arkaden standen. War ihre Mutter auch hierhergekommen? Marie ging in Zürich aufs Gymnasium. Vielleicht hatte sie manchmal hier gesessen, so wie Eva jetzt? Was sie wohl für ein Mensch gewesen war? Immer wieder hatte Eva sich ausgemalt, wie es wäre, wenn ihre Mutter noch lebte. Bernd hatte nie von ihrem Begräbnis erzählt. Überhaupt berichtete er wenig Konkretes, wenn es um seine Abreise aus Zürich ging. Als Jugendliche versuchte Eva nachzubohren. Sie wollte genau wissen, was damals passiert war. Der Vater blieb einsilbig.
»Ich musste weg.«
Er schüttelte den Kopf, machte eine wegwerfende Handbewegung, wenn Eva weiter fragte.
»Mit diesen Leuten konnte man nicht vernünftig reden.«
Wen er damit meinte, war Eva nicht ganz klar. Maries Eltern? Die Menschen aus ihrem Dorf? Das Personal der Frauenklinik?
»Wie bist du zurück nach Hause gefahren? Mit einem Baby auf dem Moped, das ging doch gar nicht.«
Bernd grinste spitzbübisch und hielt einen Daumen hoch.
»Per Anhalter. Ein LKW-Fahrer hat uns mitgenommen. Du lagst hinten in seiner Koje und hast friedlich geschlafen.«
»Und das Moped?«
Der Vater zuckte die Schultern.
»Das ist auf dem Hof geblieben. Es ging nicht anders. War eben ein Notfall.«
Damit war das Gespräch beendet. Mehr brachte Eva nicht aus ihm heraus, so sehr sie sich auch bemühte.
Die Tür öffnete sich und eine japanische Reisegruppe betrat den Kreuzgang. Die Männer trugen Sonnenhütchen aus Segeltuch, einige Frauen hatten Schirme aufgespannt. Zügig umrundeten sie den Arkadengang, schauten einmal auf die Beete in der Mitte. Kameras klickten. Dann verschwand die Gruppe wieder. Leise hörte Eva das Klacken der Holztür. Wie still es hier war. Die Stadt schien nicht zu existieren. Zwischen den Arkaden zierten Figuren die Wände. Tierköpfe, maskenhafte menschliche Gesichter, Fabelwesen. Sie blickten in den Innenhof, ihr Ausdruck unverändert seit Jahrhunderten.
Eva stand auf und begann, die Tafeln an den Wänden unter den Arkaden zu lesen. Die Legende der Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula wurde dort erzählt. Es gab Tafeln zur Baugeschichte des Großmünsters, über das Leben Huldrych Zwinglis und die Entwicklung der Reformation in Zürich. Obwohl ihr Rücken schon nach kurzer Zeit schmerzte, las Eva fast alle der ausgehängten Texte. Es schien ihr passend, dass gerade hier die Gründungslegende, die religiöse Geschichte und Identität der Stadt bewahrt wurden. An diesem Ort, der sich der Bewegtheit des Lebens draußen, der ständigen Veränderung entgegenstellte. Nachdem sie die Arkaden einmal umrundet hatte, setzte sie sich wieder, horchte auf das leise Plätschern des Brunnens. Sie genoss die Ruhe um sie herum. Nur das kleine blaue Himmelsviereck über ihr ließ erahnen, dass es eine Welt außerhalb der schützenden Mauern gab.
Wieder ging die Tür auf. Die nächste Reisegruppe. Diesmal waren es Italiener. Eine junge Frau erklärte mit lauter Stimme, was zu sehen war. Köpfe wandten sich nach links und rechts. Eva stand auf.
»Permesso!«
Sie schob sich an zwei älteren Damen vorbei und öffnete die Holztür. Von hier oben aus betrachtet, sah das schmiedeeiserne Tor am Ende der Stufen mehr wie ein Zaun aus. Wozu brauchte man es überhaupt? Die Tür schien schwer genug, um Eindringlinge abzuwehren. Nachts war sie bestimmt abgeschlossen. Eva trat durch das Tor auf den Platz vor dem Münster. Sie holte den Stadtplan aus ihrer Tasche. Der See, das blaue Band der Limmat, an deren Ufern sich die Altstadt erstreckte. Du kennst den Plan, hatte Ruben gesagt. Und bestimmt weißt du immer, wo Norden ist. Was nützte ihr das jetzt? Die Straßennamen sagten ihr nichts, eine Himmelsrichtung war so gut wie die andere. Sie faltete das Blatt wieder zusammen. Zögernd ging sie vom Großmünster in Richtung Oberdorf. Ein leichter Wind war aufgekommen. Am Himmel waren einzelne, schnell ziehende Wolken zu sehen. Ziellos ging Eva durch Straßen und Gassen, kreuzte immer wieder die Oberdorfstraße, bog bald hierhin, bald dorthin ab. Sie versuchte, die Umgebung mit Rubens Augen zu sehen.
»Jede Stadt atmet in ihrem Rhythmus. Jede hat ihre eigene Melodie, du musst sie nur hören.«
Ruben erzählte ihr von Buenos Aires, von Petersburg und Paris. Eva hörte ihm fasziniert zu. Besaß Stuttgart auch eine eigene Melodie? Eva hatte davon jedenfalls noch nichts bemerkt. Auch jetzt konnte sie die Magie aus Rubens Erzählungen nicht spüren. Im Strom der Touristen, die sich durch die Altstadt wälzten, fühlte sie sich fremd und allein.
Der Himmel zog weiter zu. Eva spürte, dass es anfing zu regnen. Dicke, schwere Tropfen. Sie überlegte, wo sie sich befand, hielt Ausschau nach einem Straßenschild. Ein Stück weiter vorn sah Eva ein erleuchtetes Fenster. Daneben eine Tür, an der ein großes rotes Schild hing: Theater Arbat. Sie schaute durchs Fenster. Ein kleiner Raum, die Wände bedeckt mit Fotos. Bühnenszenen, Porträts, Stadtansichten. Der Regen wurde stärker. Eva zögerte, dann drückte sie die Klinke herunter. Die Tür war offen, drinnen war niemand zu sehen. Von irgendwoher waren Geräusche zu hören. Sie würde sich nur kurz unterstellen, den ärgsten Regen abwarten. In dem kleinen Foyer standen mehrere hohe Bistrotische. Rechts konnte Eva durch eine halb offene Tür ein Stück Flur erkennen. Gegenüber der Eingangstür war vermutlich der Zugang zum Saal. Daneben türmten sich auf einer Holztheke Flyer und Prospekte. An der Saaltür hing ein großes Foto von Moskaus berühmter alter Straße, dem Arbat. Eva erkannte das niedrige türkisfarbene Puschkinhaus. Bulat Okudshawas Lied vom Arbat kam ihr in den Sinn. Sie summte den Beginn der Melodie.
»Ah, dich schickt Natascha!«
Der Mann stand in der Tür rechts. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Er kam ihr ungewöhnlich klein vor, seine braune Hose war ihm zu weit und zu lang, ein Gürtel hielt sie an der Hüfte zusammen. Die Ärmel des schwarzen