Katrin Köhl

Windmühlentage


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um und ging. Herr Brückner, ihr Kollege, zog die Brauen hoch und schaute Ruben fragend hinterher. Eva kam sich klein und dumm vor. Wie ein Kind war sie davongelaufen. Was mochte Ruben von ihr denken? Gut, dass er so schnell wieder weg gewesen war. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie sagen sollte.

      Auch jetzt fehlten ihr die Worte. Sie kniete vor der Mutter Gottes, suchte Halt in der immer gleichen Formel des Gebets. Eva kam oft abends nach der Arbeit hierher. Auf dem Weg besorgte sie frische Blumen. Dann fuhr sie im Feierabendverkehr die Karl-Kloß-Straße hinauf, bis sie nach rechts ins Wohngebiet abbog. Sie mochte die Josefskirche eigentlich nicht. Ein Betonklotz in typischer Siebziger-Jahre-Manier, der ihr massiv und abweisend vorkam, mit schweren kalt-blauen Stahltüren. Aus Beton war auch der Fußboden, drinnen wie draußen. Das sollte ein Symbol für die Verbindung von Kirche und Welt sein, hatte der Pfarrer ihr einmal erklärt. Eva hatte bei sich gedacht, dass hässliche Dinge nicht schöner wurden, nur weil eine Idee dahinter steckte. Nein, einladend wirkte die Kirche nicht auf sie. Dennoch war gerade hier ihre Nische, ihr Zufluchtsort, gewachsen in den vielen Jahren, die sie nun schon kam.

      Sie dachte zurück an den Tag von Tanja Schmückles Kommunion. Eva war damals acht Jahre alt. Obwohl ihr Vater zunächst strikt dagegen gewesen war, begleitete sie ihre Nachbarin und Freundin an deren großem Tag zur Kirche. Es war ein strahlender Aprilsonntag. Die Mädchen duftig weiß wie Schmetterlinge, goldverzierte Kerzen, Fahnen, dann die Klänge der Orgel, ein mächtiges Brausen, das die Luft erfüllte. Neben ihr die Großmutter, Pia Schmückle, aufrecht, streng, im hochgeschlossenen Kostüm. Das Kind ahmte die Bewegungen der Alten nach, achtete ängstlich darauf, wann sie saß, stand oder kniete, blieb auf ihr Geheiß sitzen, als die Erwachsenen zur Kommunion gingen. Schließlich beugte Eva ebenso wie die Nachbarin das Knie vor dem Tabernakel, bevor sie die Kirche verließen. Trotz ihrer leisen Furcht vor der alten Dame hatte Eva sich ihr danach immer wieder angeschlossen. Es war seither kaum ein Sonntag vergangen, an dem sie nicht die Messe besucht hatte. Auch den Rosenkranz, den sie nun Perle für Perle durch ihre Hand schob, hatte sie von Frau Schmückle bekommen.

      »Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus …«

      Eva spürte einen leichten Schwindel. Ihr war kalt. Sie fasste den Rosenkranz noch fester. Die Frucht deines Leibes. Wieder fühlte Eva den Schwindel, die Übelkeit. Der Schein der Kerzen begann, vor ihren Augen zu verschwimmen. Schwerfällig zog sie sich am Sockel der Marienstatue nach oben und setzte sich auf einen Stuhl. Die Übelkeit wurde stärker. Seit dem Mittag hatte Eva nichts gegessen. Sie faltete die Hände vor dem Bauch, versuchte noch einmal, Maria zu fixieren.

      »Heilige Mutter Gottes, bitte für uns Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.«

      Eine Kniebeuge vor dem Tabernakel riskierte sie vorsichtshalber nicht mehr. Langsam, eine Hand an der Wand, ging sie zum Ausgang, öffnete die schwere Tür der Kirche. Die frische Luft tat ihr gut. Zwar fror sie immer noch, aber der Schwindel ließ nach. Im Schein einer Straßenlaterne sah Eva auf ihre Armbanduhr. Zwanzig nach sechs. Um halb sieben wollte Bernd zu Abend essen. Hoffentlich war auf der Karl-Kloß-Straße nicht zu viel Verkehr. Wenn sie dort einigermaßen schnell über die Ampeln kam, war es vielleicht noch rechtzeitig zu schaffen. Ihr Vater mochte es nicht, wenn sie zu spät kam. Erst als Eva schon jenseits der Böblinger Straße bergauf fuhr, fiel ihr das Päckchen Tabak wieder ein. Sie hatte es in der Kirche stehen lassen. Gleich halb sieben. Sollte sie noch einmal zurückfahren? Dann würde sie auf jeden Fall zu spät nach Hause kommen. Außerdem wollte sie die Andacht nicht stören. Hoffentlich hatte Bernd noch genug Tabak übrig, um heute Abend und morgen früh eine Pfeife damit zu füllen.

      »Ich bin da.«

      Sie sagte es jeden Tag, wenn sie die Wohnung betrat. Wie unsinnig, dachte sie dann und nahm sich vor, es beim nächsten Mal nicht zu sagen.

      Bernd war in der Küche. Eva nahm seinen kurzen Blick auf die Uhr am Herd wahr, als sie hereinkam.

      »Die Tomaten sind schon gewaschen. Müssen nur noch geschnitten werden. Hast du Rucola mitgebracht?«

      »Ich habe deinen Tabak vergessen.«

      Er drehte sich um.

      »Mensch, Eva. Ich hab's dir extra aufgeschrieben. Du weißt genau, dass ich abends meine Pfeife rauche. Ich habe mich darauf verlassen, dass du den Tabak besorgst.«

      »Ich habe ihn doch besorgt. Aber dann habe ich die Tüte in der Kirche liegen lassen.«

      Der Vater schaute sie schweigend an. Eva kannte diesen Blick, der ihr sagte, dass sie ihn enttäuscht hatte. Warum hatte sie das mit der Kirche gesagt? Sie wusste doch, wie Bernd darüber dachte.

      »Ich wollte nur kurz…«

      Der Vater schüttelte den Kopf.

      »Sonst bist du doch eigentlich nicht dumm.«

      Er drehte sich wieder zum Herd, rührte in einem der Töpfe.

      »Aber an diesem religiösen Blödsinn hängst du wie an einem alten Stofftier.«

      Sollte sie sich verteidigen? Sie war müde nach dem langen Tag und wusste, dass er auf alles, was sie sagte, irgendeine logisch klingende Antwort hatte. Hokuspokus gegen Logik, darauf lief es in ihren Kirchendiskussionen meistens hinaus.

      »Ich fahre noch mal zurück«, bot sie schließlich an. »Die Andacht geht bis sieben, dann kann ich das Päckchen holen.«

      »Essen um halb acht«, brummte Bernd. »Mir hängt jetzt schon der Magen durch.«

      »Tut mir wirklich leid. Sei nicht böse.«

      »Ohne deine ewige Beterei hätten wir das Problem jetzt nicht.« Bernd seufzte. »Ich warte. Beeil dich.«

      Es war spät geworden. Im Flur schlüpfte Eva in ihre Stiefel, nahm den Mantel und die Tasche von Bernds chaotisch zugehängter Garderobe und ging nach oben in ihre Wohnung. Sie zog sich aus, brühte eine Tasse Zimttee auf und nahm sie mit an ihr Bett. Auf dem Kissen lag noch die russische Grammatik, in der sie am Morgen geblättert hatte. Inzwischen war sie beim Kapitel über die Deklination der Substantive angekommen. Eva versuchte, einen Absatz zu lesen, merkte aber, wie ihr dabei immer wieder die Augen zufielen. Sie stand auf, suchte im Kleiderschrank die Sachen für den morgigen Tag zusammen. Zur Arbeit trug Eva meist Schwarz. Es war das Einfachste. Das einzige bunte Accessoire waren ihre Handtaschen. Sie hatte sie in allen denkbaren Farben. Abends nahm sie sich immer extra Zeit, um die Farbe für den nächsten Tag auszusuchen. Jetzt zog sie einen kleinen weinroten Rucksack aus dem Schrank. Sie öffnete die grüne Tasche und packte ihre Sachen um. Geldbeutel, Schlüssel, ein Päckchen Kaugummi. Ganz unten lag ein längliches Stück Papier. Eva nahm es heraus. Es war eine Opernkarte für Rigoletto am Freitagabend. Ruben. Bestimmt hatte er die Karte im Café dabeigehabt, wollte Eva überraschen, sie einladen. Dann war das Mittagessen anders verlaufen als geplant. Was sollte sie jetzt tun? Ihn anrufen? Aber was sollte sie dann sagen? Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Selbst die Entscheidung, ob sie mit Ruben am Freitag in die Oper gehen wollte, schien ihr im Moment zu kompliziert. Eva legte die Karte in die russische Grammatik, schlug das Buch zu und legte es neben ihr Bett auf den Boden. Dann knipste sie das Licht aus.

      Schließlich rief sie Ruben doch an. Entschuldigte sich für ihr kindisches Verhalten, dankte ihm für die Opernkarte. Er bestand darauf, sie am Freitagabend abzuholen. Eva wäre es lieber gewesen, sie hätten sich vor der Oper getroffen. Sie hatte Angst, dass Bernd eine seiner sarkastischen Bemerkungen machen könnte. Das wollte sie auf keinen Fall.

      »Ich gehe nachher noch weg.«

      Eva stand schon in der Tür auf dem Weg nach oben. Sie hatte bis zur letzten Minute gewartet, ihrem Vater zu sagen, dass sie ausging. Hatte er sie überhaupt gehört? Bernd saß im Wohnzimmer, rauchte seine Pfeife und blätterte in der Zeitung. Leise zog Eva die Tür zu und stieg die Treppe hinauf, um sich fertig zu machen.

      Als sie mit Ruben aus der Oper kam, schneite es. Er legte seinen Arm um sie, zog sie näher zu sich heran. Gemeinsam gingen sie durch den Schlossgarten in Richtung Bahnhof. Für Eva wäre es näher gewesen, am Charlottenplatz die U-Bahn zu nehmen. Aber sie konnte auch am Hauptbahnhof einsteigen. Ruben fuhr von dort mit der S-Bahn