Wein mit seiner Frau. So wie am Mittwoch mit ihr. Sie versuchte, sich die beiden vorzustellen. Im Kreis einer Schar von Verwandten, die um einen großen Tisch herum saßen. Kinder sprangen lachend und lärmend um die Erwachsenen herum und bettelten, länger aufbleiben zu dürfen. Würde sie selbst so etwas je erleben? Frank war schon der zweite verheiratete Mann, in den sie sich verliebt hatte. Immer wieder heulte er sich bei ihr aus, wie schlecht es mit seiner Frau laufe und dass er sich eigentlich von ihr trennen wolle. Eigentlich. Aber dann kam die nächste Familienfeier. Ausgerechnet bei dieser konnte er nicht fehlen, das musste sie verstehen. Die Eltern, die Geschwister, die alte Tante, sie wären enttäuscht. Sie freuten sich so, wenn er mit Frau und Kindern kam. Und sie? Sie saß mit kalten Spaghetti vor dem Fernseher. Der Kandidat der Quizshow rief seine Mutter an, um sie zu fragen, was la cucaracha auf Deutsch bedeutete. Eva wusste es. Sie schaute auf die Uhr. Kurz vor neun. Sollte sie nach Vaihingen fahren? Genau genommen war sie mit Ruben nicht wirklich verabredet. Ob er an der Bar im Cortina saß und auf die Uhr schaute, wie sie selbst es so oft getan hatte? Plötzlich fand Eva den Gedanken tröstlich, dass irgendwo jemand auf sie wartete. Sie zog sich die Schuhe an, nahm den Autoschlüssel vom Haken und ging nach draußen.
Auf der Kaltentaler Abfahrt fiel ihr ein, dass sie sich nicht einmal geschminkt hatte. Sie war einfach losgefahren. Was würde er denken, wenn sie ungeschminkt in Jeans und Pulli auftauchte? An den Abenden, an denen sie auf Frank gewartet hatte, hatte sie kurze Röcke und anliegende Oberteile getragen, die ihre üppigen Rundungen betonten. Die langen schwarzen Haare hatte sie hochgesteckt, Parfüm benutzt. Andererseits sollte Ruben ja auch nicht den Eindruck haben, sie wolle mit ihm anbändeln. Sie war mit Frank zusammen. Hoffte gegen jede Wahrscheinlichkeit, dass er sich doch noch von seiner Frau trennen würde. Dass eines Tages sie diejenige wäre, die mit ihm im Kreis von Freunden oder Verwandten an einem Tisch saß und lachend eine Schar Kinder zur Raison brachte. Seufzend stellte Eva den Polo auf dem Parkplatz ab und ging auf die Eingangstür des Hotels zu. Sie traf einen Freund. Nicht mehr. Gut, dass sie sich nicht umgezogen oder aufwändig zurechtgemacht hatte.
Eva betrat die Bar und schaute sich um. Am Tresen saß ein Paar. Einige Tische waren belegt. Ruben war nicht da. Sie spürte, wie Enttäuschung in ihr hochstieg. Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst. Wie konnte sie annehmen, dass er einen ganzen Abend lang hier sitzen und auf sie warten würde! Es war zwanzig nach neun. Selbst wenn er da gewesen wäre, wäre er wohl längst gegangen. Hätte angenommen, dass sie nicht kam. Als sie wieder auf den Parkplatz kam, sah sie ihn. Er stand in der Nähe des Bahnhofskiosks und schloss sein Fahrrad auf. Sollte sie sich bemerkbar machen? Als hätte er ihre Anwesenheit gespürt, drehte er sich um. Er winkte ihr zu.
«Eva! Schön, dass du da bist. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«
Eva zupfte ihren Schal zurecht, fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Ruben schloss das Rad wieder an und winkte Eva zu.
»Komm! Wenn wir Glück haben, finden wir im Krokodil noch ein Plätzchen.«
Sie gingen das kurze Stück zu Fuß.
Die Kneipe war bis auf den letzten Platz besetzt. Über der Bar hingen Fußballschals diverser Clubs und ein VfB-Wimpel. Eine große Tafel an der Wand pries das Bier der Woche an. Es kam von einer kleinen Brauerei aus Isny im Allgäu. Ruben winkte einer der Bedienungen. Sie war dabei, vier Teller mit Flammkuchen zu einem Tisch zu bringen. Danach kam sie zu ihnen, umarmte Ruben. Sie sagte etwas zu ihm, das Eva nicht verstand, und zeigte auf einen kleinen Tisch in der Ecke. Die beiden Frauen, die dort gesessen hatten, waren gerade im Aufbruch. Als sie gegangen waren, schob Eva sich auf die Bank an der Wand. Ruben setzte sich ihr gegenüber. Eva ließ den Blick durch den kleinen Raum schweifen. Zwei gusseiserne Stützpfeiler in der Mitte. An einer der Wände prangte ein großes gemaltes Krokodil, an den anderen hingen gerahmte Poster. Mick Jagger, die Rolling Stones, Frank Zappa.
Sie bestellten das Weizenbier aus dem Allgäu. Ruben erzählte Eva von seiner Arbeit an der Oper, von seiner Familie und den Orten, an denen er als Kind gelebt hatte. Sein Vater, ein Deutscher, war ein hohes Tier in einem weltweit operierenden Konzern. Die Familie war immer wieder umgezogen. Zu Hause war für Ruben der Ort, an dem seine Mutter war. Sie, die Künstlerin, eine gebürtige Spanierin, war der Ruhepol, der Hafen, zu dem er immer wieder zurückkehrte. An welchem Platz der Erde das gerade war, war ihm egal. Das Leben draußen war für ihn immer eine Einladung zum Abenteuer gewesen. Als Kind war er durch die Städte, in denen sie wohnten, gestreunt, immer mit einem Skizzenblock unterm Arm, hatte Häuser, Menschen, Stadtansichten gezeichnet, mit den Leuten auf den Märkten und Plätzen geredet. Er war überzeugt, das Meiste von dem, was er im Leben brauchte, auf den Straßen seiner Kindheit gelernt zu haben. Immer wieder wechselte die Umgebung. Auch die Häuser, in denen er wohnte, waren immer wieder andere. Was blieb, war das Atelier seiner Mutter. Ihre Bilder wurden in einem neuen Haus immer als erstes aufgehängt.
»Meistens war das Atelier früher eingerichtet als die Küche oder das Wohnzimmer.«
Er lachte, trank einen Schluck aus seinem Bierglas.
»Ich bin praktisch im Atelier aufgewachsen. Du hättest mich mal sehen sollen, als sie versuchten, mich in den Kindergarten zu schicken!«
»Du wolltest dort nicht hin?«
»Auf keinen Fall! Wir waren damals in Paris. Meine Schwester Cristina war schon in der école maternelle. Ich sollte dann auch dort hin. Aber ich fing an zu schreien, bekam Tobsuchtsanfälle, lief immer wieder weg. Schließlich haben sie kapituliert.«
Ruben blieb, wo er ohnehin am liebsten war, bei seiner Mutter im Atelier. Er bekam eine eigene kleine Staffelei. Fortan malten sie zu zweit. Die Mutter ermutigte ihn, zeigte ihm die verschiedenen Techniken, nahm ihn mit, wenn sie mit dem Skizzenblock auf einen ihrer ausgedehnten Spaziergänge ging.
»Ich bin recht früh auch allein losgezogen. Mein Vater wusste lange Zeit nichts davon. Er hätte es nicht erlaubt. Als Grundschüler allein in Paris, mit zehn dann in Tallinn, das war kurz nach der Wende. Als ich dreizehn wurde, zogen wir nach Sankt Petersburg. Wie man Porträts malt, habe ich von den Straßenmalern auf dem Nevskij Prospekt gelernt.«
Besonders fasziniert war Eva von Rubens Art, Sprachen zu lernen. In seinen Erzählungen hörte es sich an, als würde er sie einatmen wie die Gerüche eines Basars.
»Hast du nie Vokabeln gelernt?«
Ruben schüttelte den Kopf.
»Sprache ist für mich Teil eines Ganzen. Wenn ich unterwegs bin, mache ich mich auf und lasse alles in mich einströmen: Farben, Geräusche, Gerüche. Die Menschen einer Stadt, eines Landes, ihre Kultur, die Geschichten, die ihr Leben prägen. Alles ist untrennbar miteinander verbunden, die Sprache steht nicht für sich.«
Er trank einen Schluck, lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Und du? Lernst du Vokabeln?«
Eva strich mit dem Zeigefinger über eine Kerbe in der Tischplatte. Sie schaute Ruben nicht an.
»Ich lese Wörterbücher.«
Würde er sie auslachen? Normalerweise erzählte Eva niemandem von ihrer Leidenschaft für fremde Sprachen, deren Grammatik und Etymologie. Nicht einmal ihr Vater wusste von der Menge an Wörterbüchern und Sprachlehrwerken aller Epochen, die sich in Evas Zimmer stapelten. Einzig ihre Freundin Giulietta war eingeweiht. Mit der jüngsten Tochter von Signor Bertoni, dem Padrone des Bagno, hatte Eva als Kind in den Ferien gespielt und dabei Italienisch gelernt. Auch die Grundlagen des Lateinischen und Griechischen hatte Giulietta, die das altsprachliche Gymnasium besuchte, Eva beigebracht. Bis heute schrieben die Freundinnen sich Briefe, in denen sie über linguistische Themen fachsimpelten.
Eva schob ihr Glas ein Stück zur Seite. Sie blickte zu Ruben.
»Ich lese Grammatiken und Wörterbücher wie einen Roman. Mich interessieren Strukturen, Entwicklungslinien. Die Aussprache höre ich mir auf CDs an und versuche dann, herauszufinden, wie ein Laut genau gebildet wird, was ihn von den Lauten einer anderen Sprache unterscheidet. Am Ende entsteht dabei auch ein Gesamteindruck, aber es ist mehr wie ein Mosaik, das ich langsam zusammensetze.«
Ruben schaute sie verwundert an. Dann nickte er.
»Du